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Es beginnt. Aufbruch in Yddland.

Das milde Wetter hatte nicht angehalten. In den wenigen Tagen, in denen die Bretonische Delegation auf Yddland weilte, war der Winter über das Eiland hereingebrochen: Väterchen Frost hatte Einzug gehalten und auf dem Wasser in Berardsports lag die erste, hauchdünne Eisschicht des Winters. Die Luft war klar, aber kalt. Und von seewärts kam eine steife, eisige Brise. 

Capitaine Mésaventure blickte hinauf in die Takelage der Tilberi in der der blaue Peter bereits seit gestern morgen wehte: der Morgennebel war an den Tauen gefroren und hatte sie in ein wundersames, funkelndes Netz verwandelt. Mésaventure mochte diese Reisen am Rande des Winters nicht. Besonders nicht auf dem Drachenmeer. Und schon gar nicht auf der Sturmsee. Und erst recht nicht bei Spitze von Söderland, wo sich beide Meere schäumend vereinten und wo auch ohne Winterwetter tückische Winde aufkommen konnten, die drohten, die Schiffe in die schroffen Steilklippen der Söderlandspitze zu drücken. Und gerade zu dieser Jahreszeit kamen oft mächtige Stürme dazu, die wie aus dem Nichts entstanden und selbst große Handelsschiffe zu einem Spielball der Gewalten machen konnten. 

Aber die Tilberi war ein sicheres Schiff. Zudem das schnellste Schiff der Mittellande. Die Klipperbark konnte mit ihrem schlanken Rumpf die Wellen durchschneiden wie ein Messer durch Butter fuhr, und sie hatte drei Masten mit mehreren Reihen hellgrauer Lateinersegel. So musste sie nicht zwangsläufig vor dem Wind laufen, sondern konnte kreuzen und war nicht von der Windrichtung abhängig. Ein langes Schwert unter dem Rumpf hielt das Schiff stabil auf Kurs und verhinderte eine Abdrift. Bei Sturm sprang sie geradezu über das Meer. Der schwarze Rumpf und die grauen Segel machten den Clipper überdies auf See quasi unsichtbar, was sich positiv auf das Fortkommen ohne unliebsame Unterbrechungen, z. B. durch Piraten, auswirkte. Mit der Tilberi ließ es sich nicht nur trotz auflandigen Windes auslaufen, auch ihre enorme Geschwindigkeit machte sie zu einem Transportmittel, das wie geschaffen war für die Lordkonsulin

 

Dreißig Fässer Gold, so erzählte man sich, soll sie der Familie Castellani für das im Geheimen gebaute Schiff bezahlt haben. Das schien angemessen, denn die „Gespenst“ wie die Übersetzung ihres Namens aus dem Vorbretonischen lautete, war auch mit allem erdenklichen Luxus ausgestattet. In der Kabine der Lordkonsulin gab es sogar ein eigenes Bad und die Wände waren mit Seide und Samt ausgeschlagen. Vier wunderschön geschnitzte Betten standen dort, ein jedes mit erlesenen Fellen und prall gefüllten Daunendecken in feinleinenen Laken und damastenen Kissen ausgestattet. Vor den drei Heckfenstern, die von schweren Vorhängen eingefasst waren, stand ein schwerer, schwarzer Schreibtisch – der Arbeitsplatz der Lordkonsulin. Hier hielt sie sich die meiste Zeit einer Reise auf. 

Mésaventure hatte keine Ahnung von der Arbeit, die eine Lordkonsulin zu tun hatte, aber er fragte sich, wie man stundenlang in Papieren wühlen konnte ohne dabei einzuschlafen. Wichtig war es wohl irgendwie und er wollte die Bedeutung auf keinen Fall infrage stellen, war sie doch seine Herrin – noch dazu eine, die ihm weitreichende Freiheiten ließ und ihn wie auch die Mannschaft ordentlich versorgte.  Aber verstehen konnte er die Leidenschaft der Lady hinsichtlich schriftlicher Regierungsgeschäfte nicht.

Die Besatzung schlief in Gruppenunterkünften, diese waren jedoch alle durch ein ausgeklügeltes System gut belüftet und jeder Mann und jede Frau hatte ein eigenes Bett. Die Verpflegung war erstklassig, und es galt als Privileg auf der Tilberi dienen. Und auch die Heuer war vergleichsweise hoch. Ein jeder, der zur Besatzung der Tilberi gehörte, schätzte sich glücklich.

Jetzt stand Mésaventure an der Reling und blickte auf die geschäftige Crew, die gerade den neuen Proviant an Bord brachte und das Gepäck der neuen Gäste verstaute.

Unten auf dem Kai erkannte er Herrn Ulrich, den Berater seiner Herrin. Dieser half gerade Lady Freya über die Passerelle hinauf an Deck. Dahinter die Lordkonsulin, an ihrer Seite offenbar Ihr Gatte, Baron Balduin von Burgbach-Orkenstein. Seinen Namen und Rang hatte Ulrich der ganzen Mannschaft über die ganze Hinreise hin geradezu eingebläut. Der Herr sollte mit allem Respekt behandelt werden, da war die Lordkonsulin unmissverständlich gewesen.

Also trat Mésaventure auf die Gäste zu und begrüßte sie. Er war sich nicht sicher, ob die Lady ihren Gatten darüber aufgeklärt hatte, dass es außer der großen Kabine der Lordkonsulin nur die kleine Kapitänskammer gab und die Gruppenunterkünfte. Vorsichtshalber hatte er seine Kajüte räumen lassen und war ins Mannschaftsquartier umgezogen. Man konnte ja nie wissen.

Jetzt bellte er ein paar Befehle über das Deck und die Geschäftigkeit der Mannschaft nahm schlagartig zu. Die Taue wurden von den Dalben gezogen und die Ruderboote am Bug zogen die Tilberi in den Wind. Ein einzelnes, vorderes Segel blähte sich in der schwachen Brise und langsam glitt das Schiff aus dem Hafen. 

„À vous, meute paresseuse!“, brüllte Mésaventure gutgelaunt „Voran! Au Breton! Es geht nach Hause!“

Endlich. 

 

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Lex Port. Bretonien.


Als Schiff unter Regierungsflagge fand die Tilberi immer einen Platz im Militärhafen von Lex Port. Jetzt war der Hafen leer, weil die Schiffe für den Winter in den Werften entlang der ganzen Küste gewartet wurden und die Patrouillenschiffe unterwegs waren um die Sicherheit der bretonischen See zu gewährleisten. Langsam glitt das Schiff der Lordkonsulin in den Hafen, drehte bei und Capitain Mésaventure setzte die Clipperbark elegant an den ersten Pier. 

Die Piercrew vertäute das Schiff und die Passerelle glitt bereits hinab auf den Kai. Von überall eilten Menschen herbei, um das Schiff zu entladen und die Dinge zu erledigen, die so zu erledigen waren, wenn ein Schiff nach einer langen Reise nach Hause kommt.

Lex Port war keine wirklich schöne Stadt. Von See aus sah sie zwar beeindruckend aus, umgab sie doch meerseitig eine weiße Stadtmauer, hinter denen die Feste der nautischen Militärkommandatur hoch hinausragte. Aber lag man erst einmal im Hafen, fand sich hier wenig Beeindruckendes. Denn Bretonien verfügte nicht über ein stehendes Heer, jedoch über eine schlagkräftige Militärflotte, die natürlich einen gewissen Stab bedingte, der seinen Platz in der Kommandatur fand. Ansonsten war das große Gebäude wenig in militärischem Gebrauch und die unteren Stockwerke dienten hauptsächlich als Lager für Kriegsgerät und Proviant. Ein großer Teil der Räume wurde zivil genutzt und stand Händlern als Zolllager zur Verfügung. Das Gebäude war schmucklos und ohne jede Eleganz, ein typisch militärischer Zweckbau. Die Kommandatur war in Kriegszeiten der Sitz des bretonischen Heerführers, eines Amtes mit großer Bedeutung in Bedeutung und hohem Ansehen, welches schon seit vielen Jahren von Lordsire Mettre au Monde vorbildlich ausgefüllt wurde. 

Dieser war auch gleichzeitig der Earl von Lex Port, denn es war immer der jeweilige, oberste Heerführer, der dort auch die Verwaltung innehatte. 

 

Lex Port war eine klassische, geometrische Militärstadt, auf deren Mauern große, weit reichende Kanonen standen und deren Militärkomplex aufgeräumt und ordentlich wirkte. Aber eben nicht schön und damit für Bretonien eigentlich untypisch, da Schönheit auch in der Architektur für Bretonen immer eine Herzensangelegenheit war. Der Konstrukteur dieser Anlagen war jedoch kein Bretone gewesen. Ferdinand Mauerbruch, genannt „Mörtel“, war ein Baumeister, der für seine Effizienz bekannt gewesen war, nicht für seinen Feingeist. „Den Rest bringt der Putz“ soll ein Wahlspruch von ihm gewesen sein, aber Putz war ganz offensichtlich nichts, was zu seinen Stärken gezählt hatte.

Es dauerte nicht lang, da erreichte das Pier eine Kutsche, um die Lordkonsulin, ihren Gemahl und die anderen Reisenden aufzunehmen. Der Vierspänner wartete nicht auf das Gepäck, was bereits auf Ochsenkarren geladen wurde, sondern rollte eilig aus dem Militärhafen hinaus in den wohlhabenden Wohnbezirk der Stadt, in dem hoch aufragende Stadthäuser an der großen Allee, dem „großen Weg“ aufgereiht waren, unterbrochen von kleinen Parks und künstlich angelegten Fischteichen. Hier fanden sich nicht nur die Stadthäuser der Adligen, welche nur sporadisch bewohnt waren, sondern auch die Häuser der zu Reichtum gelangten Händler. Dieser kleine, saubere, aber nicht wirklich wohlgestaltete Bereich von Lex Port stand im krassen Gegensatz zum Rest der Stadt, der eher einem Moloch glich und für den Lex Port auch bekannt und berüchtigt war.

An den Militärhafen schloss sich nach Osten hin der zivile Hafen an. Dieser wirkte ungeordnet, unstrukturiert, aber auch lebhaft, wimmelnd und leider auch unglaublich schmutzig. Lex Port war der größte Hafen Bretoniens und daher auch ein entsprechender Warenumschlagsplatz. Sein Hafen hatte eine große Wassertiefe, so dass Schiffe verschiedenster Bauart, besonders auch die großen Frachtschiffe, direkt an den Kais anlegen konnten. Wenn nötig, in mehreren Reihen. Den Hafen umschloss ein ebenso wild gewachsenes Hafenviertel, bunt, laut, chaotisch. Aber auch voller Energie, pulsierend und erfüllt mit bretonischer Lebenslust, die allerdings auch in so mancher krimineller Handlung ein Ventil fand. Das Vergnügungsviertel des Hafens war fast halb so groß wie die gesamte Stadt und die meisten Leute in der Stadt waren keine Einwohner, sondern Menschen, die ihren Weg über das Meer nach Bretonien gefunden hatten, um dort zu handeln, Dinge zu erledigen oder einfach nur auf die Einschiffung in das nächste Schiffsverbindung nach überall in die Mittellande zu warten. 

Gebürtige Lex Porter gab es auch kaum. Wer hier wohnte, arbeitete hier, weil er woanders keine Arbeit fand, und wer hier gestrandet war, legte keinen großen Wert auf saubere, trockene Bettstatt, schimmelfreies Brot, sauberes Wasser und frische Luft. Die meisten Bewohner von Lex Port waren noch nicht einmal Bretonen. So fand sich hier auch allerdings Kurioses. Lex Port war z. B. der einzige Ort in Bretonien, in dem man dem Hühnergott huldigte. Eine Folge der Hühnerpest nach dem großen Ruhr-Seuchenzug im Jahre 1203. 

Auch gab es eine Tavernen-Olympiade, bei dem man sich nur durch interessante Hautkrankheiten qualifizieren konnte und man sich in Disziplinen wie „Nachttopftrinken“, „Tischmesserfalten“ und „Furunkelwettstechen“ maß und den „Tavernen-König“ erkor, der anschließend ein Jahr lang kostenlos in jeder Taverne Lex Ports Brandwein trinken durfte. Die meisten Tavernen-Könige traten daher kein zweites Mal an, denn in der Regel verträgt eine durchschnittliche Trinkerleber so einen Schnapsmarathon nicht länger als ein halbes Jahr. Die Huren in Lex Port galten als wenig hübsch, aber außerordentlich einfallsreich und schmerzbefreit, und die Lex Porter Barden kannten immer die zotigsten und dreckigsten Lieder der ganzen Mittellande. 

Das Vergnügungsviertel, welches auch als „finstre Gassen“ bekannt war, hatte also einen entsprechend legendären Ruf. So mancher Ritter hatte hier die Nacht seines Lebens erlebt. Und so mancher auch seine letzte. Das Hafenwasser von Lex Port, so erzählte man sich, war nur deshalb so schwarz, weil es zur Hälfe aus Scheiße bestand – und zur anderen Hälfte aus liquideren Körperflüssigkeiten verschiedenster Art. In besonders heißen Zeiten soll das Hafenwasser so dicht gewesen sein, dass man von einer Seite des Hafens zur anderen gelangen konnte, in dem man einfach über das Wasser schritt. 

Die finstren Gassen jedenfalls waren nicht Ziel der Kutsche der Lordkonsulin, die keinen gesteigerten Wert darauf legte, Bekanntschaft mit der besonderen Folklore Lex Ports zu machen und die auch nicht wünschte, dass ihr Gatte und der Rest ihres Haushaltes da andere Werte entwickelten. 

So flog die Kutsche über den großen Weg dahin und schon bald ließ sie Lex Port hinter sich auf ihrem Weg nach Bouillon, der Grafschaft von Lordsire Maurice Gaspard de Bouillon.

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Bouillon - das fränkische Bretonien


Die Kutsche der Lordkonsulin rollte auf dem großen Weg dahin und passierte eben den großen Grenzstein mit der Lilie Bouillons. Schon erhoben sich zur Linken die ersten Hügel, die alsbald zu jenen ausgedehnten Bergen werden sollten, die den hervorragenden Vin Rouge aus dem Bouillon lieferten. Viele Weinreben unterschiedlichster Sorte reihten sich hier ordentlich nebeneinander auf den Hängen der Berge auf, und im Sommer schmückte das zarte Grün der Weine fast den gesamten großen Weg bis hinunter zum großen Bretonischen Wald.

Bouillon war bekannt für viele verschiedene, sehr gute rote Weine. Nicht alle waren der Lordkonsulin bekannt, sie selbst trank lieber weißen Wein oder Bier, was sie im Ausland natürlich niemals zugab. Gern schenkte sie jedoch auf Reisen den Chasteau de Bastard aus, einen Wein, der an den Hängen direkt am Chasteau de Bouillon wuchs. Auch der Péter feudale war ein Roter, der ihr mundete, ebenso wie ein Wein, der oft an der Tafel des Königs getrunken wurde und der den klangvollen Namen „Chevalier de Bayeux“ trug. Apropos Bayeux. Auch Bouillon verfügte über einen Meereszugang in Form einer kleinen, für den Handel jedoch keineswegs unbedeutenden und sehr hübschen Hafenstadt Namens Bayeux. Zwar war die Küstenlinie im Norden Bouillons nicht besonders lang, aber sehr malerisch. Wie überhaupt alles in Bouillon. Hier – so kam es der Lordkonsulin vor, wenn sie, wie so oft, durch das Lehen des Lordsires Maurice nach Lex Port oder von dort nach Hause reiste, war die liebe alte Zeit, die gute alte Zeit in Landschaft gegossen worden. Sanfte Hügel, ausgedehnte Wiesen, wohlgeordnete Dörfer, saubere Häuser und gute Wege gaben Kunde davon, dass sich der Herr über dieses Land gut kümmerte und es verstand, den Wert der Leute und des Landes zu schätzen.

Der Wein war schwer, das Bier dunkel und die Menschen arbeitsam, aber légère. Die Junker waren schneidig, die Maiden sittsam und vornehm die Herrschenden. Allen voran Lordsire Maurice Gaspard de Bouillon, der als tugendhafter Ritter galt und als stattliches Mannsbild auch bei den Damen immer Schneid hatte. Wahrscheinlich auch, weil sein Charme nicht durch einen stinkenden Gambeson, unkontrollierte Körpergeräusche und laute Großmannssucht beeinträchtigt wurde, dachte Katalina bei sich. 

Sie mochte den feuerhaarigen Lordsire, den „Hammer Bretoniens“, der auch über andere Talente als die der Abwesenheit von abstoßenden Charakterzügen verfügte. So konnte der Lordsire nicht nur trefflich auf dem Schlachtfeld wie auch auf dem Turnier streiten, sondern war auch überaus geschickt im Tanze, wusste immer eine gute Geschichte zu erzählen, spielte meisterlich die Laute und vermochte wie ein Engel zu singen. Lordsire Maurice war ein Mann der Tat, aber eben auch ein höflicher Chevalier, der keine Angst hatte, dass sein Gemächt vertrocknete, nur weil er es mit ebenbürtigen Frauen zu tun hatte. So war er z. B. der einen oder anderen Herzogin in den Mittellanden aufgefallen und derzeit beminnte er – nicht erfolglos, wie man hörte – die Fürstin der Westmark, die als außerordentlich anspruchsvoll galt. 

Ja, Bouillon war schön, nicht so schön wie Montfort, aber auch ganz hübsch. Die Kutsche rollte nun auf das Chasteau de Bouillon zu und Katalina überlegte, ob sie eine Unterbrechung der Reise anordnen sollte um Lordsire Maurice einen Besuch abzustatten. Doch sie entschied sich dagegen. Die Tilberi war früh am morgen in Lex Port eingetroffen, der große Weg war bis kurz vor das Hochland gut ausgebaut und das Wetter stabil. Die Kutsche könnte heute locker 60 Meilen schaffen, dachte sie. D. h. wir schaffen es bis kurz vor Aquileia und können dort in der Herberge „Zum fröhlichen Pilger“ Quartier nehmen. Bleibt uns das Wetter hold, könnten wir am Abend des dritten Tages schon auf Burg Bigot sein. Ich will endlich nach Hause!

Ein Blick auf ihren Gatten bestätigte ihren Entschluss. Er war eingeschlafen.

„Wenn sie schlafen sehen sie so niedlich aus“, dachte Katalina und seufzte. Die Kutsche rollte weiter Richtung Süden.

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Langweiliges Aquileia - hohes Hochland.

Der Große Weg am Rande des Großen Bretonischen Waldes zog sich fast schnurgerade durch Aquileia, eine wenig bedeutende Provinz Bretoniens. Sie war – obwohl zu den Stammlanden gehörend – nur spärlich bevölkert und spielte weder im Handel noch in der Politik Bretoniens eine große Rolle. Das Lehen wurde gehalten von Lady Shirin von Aquileia, der Gattin von Lordsire Arkazs und Vorsteherin der – nur zeitweise örtlich anwesenden – Magiergilde der Mondschwingen, die einst in Bretonien großes Gewicht hatte, sich nun aber durch weitmöglichste Bedeutungslosigkeit bemühte. Da sowieso die meisten Bretonen der Magie gegenüber entweder ablehnend oder allerhöchstens wohlwollend ignorant gegenüberstanden, war deren Interesse an Aquileia eher gering. Auch, wenn die Mondschwingengilde dort gar nicht ansässig war, sondern im ehemaligen Lehen Finchley, welches mindestens zwei Tagesreisen entfernt Richtung Osten lag, und das sich derzeit der gleichen Bedeutungslosigkeit hingab.

Der Große Weg jedoch Richtung Süden, der jetzt auf das Bretonische Hochland zustrebte, war gut gepflegt und gut zu bereisen, wenngleich das Auge auf der Fahrt wenig Abwechslung in der Landschaft fand. Auch Ortschaften gab es seltsamerweise an diesem Abschnitt des großen Weges keine einzige. Nur ein paar Einzelgehöfte boten ab und an unterdurchschnittliche Abwechslung. Eine Ausnahme bildete die Gaststätte im Süden des Lehens, die den Namen „Zum Fröhlichen Pilger“ trug und wahrscheinlich deshalb „fröhlich“ war, da der Reisende froh war, diese eintönige und ereignislose Grafschaft bald zu verlassen. Das Gasthaus war überdies mit bunten Verzierungen übersät und im Sommer blühte ein üppiger Garten zu seinen Seiten. 

Es dämmerte bereits, als die Kutsche auf den Vorhof der Herberge rollte. Hinter ihr türmten sich die ersten Ausläufer des Bretonischen Hochlandes in den grauen Himmel. Der Wirt kam beflissen aus der Herberge geeilt um die Reisegesellschaft zu begrüßen. „Modome Lordkonsolin, herzlisch willkommen, seyd moine Gäschte!“, rief er in dem breiten Akzent der Hochlande. Ferdinand le Crobaq war ein rotgesichtiger, feister Mann von mittelgroßer Statur, der sich bereits vor vielen Jahrzehnten mit seiner Familie in Aquileia niedergelassen hatte als der letzte Wirt des „Fröhlichen Pilgers“ das Zeitliche gesegnet hatte und sich kein Nachfolger fand, weil die beiden Töchter des Wirts lieber auf die Magierakademie zu Radonesh gegangen waren. Nun wrang Ferdinand die Hände vor seinem gewaltigen Bauch und sagte: „Modome, i’denk dass i Eusch das grosche Zommer gebön kann. Aber leider hab i koin weiteres Zommer froi!“ Katalina winkte ab. „Passt schon, Ferdinand, passt schon. Bitte sorge dafür, dass die Pferde untergebracht und versorgt werden und dass wir etwas zu Essen bekommen. Wir essen in der Taverne.“ Die ganze Reise über schon war die Gesellschaft auf einem gemeinsamen Schlafplatz zusammengedrängt – da würden ein paar weitere derartige Übernachtungen jetzt auch keine Umstände machen. 

Als sich die Gesellschaft wenig später im gemütlichen Schankraum zusammenfand, wurde sie neugierig aber respektvoll von allen Seiten beäugt. Die Herberge war voll, für den Winter ungewöhnlich. 

Eine Nachfrage beim Wirt ergab, dass am Fuße des Hochlands ein Blumenfest gefeiert werden sollte. „Möt Danz und Vörgnüchlischkeitn!“, wie Ferdinand sich ausdrückte. Ein Blumenfest im Winter? Nun, das bretonische Hochland war für allerlei Langweiligkeiten bekannt, da wäre ein Blumenfest im Winter ein Ausreißer nach oben. Kein Wunder, dass niemand sich fragte, warum man im Hochland ausgerechnet im Winter ein Blumenfest feiern wollte. Katalina hatte noch nie etwas von diesem Fest gehört. „Mörkeding...:“, erklärte Ferdinand. „Mörkeding! Esch gobt oinen Ziegontroiberwettbeworb! Und oin Wettdrincke!“ Klar. Und Freibier wahrscheinlich auch. Jedenfalls mit der Plörre, die man im Hochland für Bier hielt. Ob es denn auch Blumen gäbe, fragte Katalina. Iwo, antwortete Ferdinand, doch nischt im Wintör. Katalina fragte nicht weiter.

Nicht nur die Vegetationsperiode, auch die Blüte des Hochlandes war längst vorüber, sofern es denn je etwas gegeben hätte, was diese Bezeichnung verdient hätte. Aber immerhin: in besseren Zeiten stellten die Clans ein gekröntes Haupt im House of Lords. Heute aber hielten sie sich völlig aus der Politik heraus und einzig im Blumen- und Fellhandel hab es eine nennenswerte Sichtbarkeit des Hochlandes. 

Auch geografisch gesehen hatte das Hochland außer ein paar kargen Felsen, einer Menge Heidekraut und ein paar langhaarigen Ziegen nicht viel zu bieten. Außerdem stand es aufgrund seiner Lage inmitten der Stammlande jedem Reisenden im Weg. Es bildete eine natürliche Barriere und obwohl es nicht sehr groß war, war es jedoch nicht ohne Beschwerlichkeiten möglich, einfach darüber hinweg zu reisen. Die Pässe waren schwer zugänglich, ungepflegt, es gab keinen Schutz vor dem Wetter und dann waren da noch die gefährlichen Hochlandponys...

Ulrich hatte Katalina erzählt, er hätte beim Einfangen einiger Ponys dort oben auch Orks gesehen. Aber die wären sehr klein, sehr schwächlich und kränklich dahergekommen, und es wären auch nur zwei gewesen. Angeblich nutzten die Hochländer diese degenerierte Orkpopulation zum Ausbilden ihrer jungen Krieger. Aber nach Ulrichs Meinung wären diese Orken auch für Zweijährige keine ernstzunehmenden Gegner. Nicht einmal für zweijährige Hochländer. Das könnte auch erklären, dachte sich Katalina, warum aus dem Hochland keine großen Krieger mehr kamen und die Männer dort oft sehr dünne Beine hatten. Aber vielleicht lag das auch nur an der dünnen Luft.

Zurück zur Verkehrslage: Man hatte schon daran gedacht, einen Tunnel unter dem Felsmassiv hindurch zu graben. Denn der Umweg um das Hochland herum dauerte fast zwei Tage, während man für einen direkten Weg nur einen halben Tag benötigen würde. Aber das Hochland war Sache der Hochländer, und die hatten bisher wenig bis gar keine Anstrengungen unternommen, an den Wegen durch das Hochland etwas zu verändern. Möglicherweise war das auch gewollt. Vielleicht wollten Sie die kränkliche Orkpopulation erhalten, die natürlich bei komfortableren Reisewegen über das Hochland relativ schnell aussterben würde. Oder ihnen lagen die Hochlandponys irgendwie am Herzen. Diese fiesen Biester.

Hochlandponys waren sehr genügsam, aber hochgefährlich, da mit ebenso viel schlechter Laune ausgestattet wie scharfen Zähnen. Sie wurden für den Ponyexpress eingesetzt, bei dem es nicht vonnöten war, die Ponys zu zähmen. Sie wurden einfach unter Opiate gesetzt, dann angeschirrt von sogenannten Ponybändigern (den höchstbezahlten Angestellten des Bretonischen Ponyexpress) und dann wurde die mit eiliger Post beladene Kutsche mit den Ponys davor in einer Scheune vor das Tor gestellt. Ließ die Wirkung der Opiate nach, wurden schnell die Tore geöffnet und die Ponys schossen mit samt der Kutsche aus der Scheune hervor. Der Kutscher hatte nur die Aufgabe, die Ponys irgendwie einigermaßen auf der Straße zu halten und die Post an den richtigen Stellen von der Kutsche zu treten. Bretonische Hochlandponys schafften auf diese Weise fast 100 Meilen am Tag bis sie zusammenbrachen. So hatte sich über ganz Bretonien entlang der geraden Wege ein entsprechendes Netz aus Hochlandpony-Stationen gebildet, wo die niedergegangenen Ponys einfach durch neue Bestien ersetzt wurden und die erschöpften eine Nacht Zeit hatten, sich wieder zu erholen.

Trotz – oder gerade wegen - dieser Nutzungsform galten die Hochlandponys als unzähmbar. Bis Sir Ulrich auf die Idee kam, sie zu einem Exportprodukt für Tirda zu machen. Sie waren genügsam, konnten auch im Winter ihr Futter selbst suchen und man konnte sie in schlechten Zeiten auch aufessen – sofern man eines erwischte. So ein Mistvieh zu reiten, hatten schon einige versucht, waren aber grandios gescheitert. Hochlandponys galten als unreitbar. – Dann kam Sir Ulrich. Dem tirdanischen Berater Katalinas war es aufgrund seines ihm eigenen Fanatismus gelungen, einige Ponys zu brauchbaren Reittieren auszubilden. Katalina argwöhnte im Geheimen, dass er ihnen stundenlang aus dem Buch Gorods vorlas und die Ponys darob aus lauter Verzweiflung in einen Zustand der „erlernten Hilflosigkeit“ verfielen und so formbar wurden. Aber näher mochte Sie nicht nachfragen, denn zum einen befürchtete sie, dass Ulrich ihr womöglich einige Passagen aus dem Buch Gorods vortragen würde und zum anderen hatte sie Ulrich ein äußerst passabel zu reitendes, graues Geschwister-Ponypaar zu verdanken, das sie mittlerweile sehr liebte.

Die Stute neigte zwar – wie viele bretonische Damen – zum Drama, hatte aber einen federnden Gang, und der Wallach (Katalina hatte – unter Ulrichs lautstarkem Protest – den Hengst kastrieren lassen) war ein echtes Schaf, der Lordkonsulin sehr zugewandt und sehr höflich. Und bei den Reitübungen im Hof zum Zwecke der Ausbildung der Tiere pflegte Ulrich das eine über andere Mal ohne Hemd am Fenster des Arbeitszimmers der Lordkonsulin vorbei zu fliegen, wenn eines der störrischen Ponys ihn nicht länger auf dem Rücken dulden wollte. Katalina wusste, dass Ulrich sich nicht wehtat, denn in der Regel landete er auf seinen Füßen wie eine Katze. Eine Katze ohne Hemd, versteht sich.

Katalina räusperte sich und kehrte gedanklich in die Taverne zurück. Morgen würden sie Aquitania durchqueren und dann in die Provinz Autarque kommen, in der auch Montfort, das Lehen der Familie Bigod, lag. 

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