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Ciro Schattenläufer: Verborgene Pfade (Teil 1)

Prolog: Es war einmal…

Eine Stunde also… Nun gut, wenn mir nur eine Stunde bleibt, dann möchte ich doch höflichst bitten, bei meinen Ausführungen nicht unterbrochen zu werden.

Also mal sehen: Wo sollte ich beginnen? Am besten fange wohl bei bei mir selbst an. Mein Name ist Alricio Loratan, gelernter Buchhalter aus dem wunderschönen Kuslik. Dort habe ich auch meine Lehrmeisterin kennengelernt, die mich in der Kunst des Diebeshandwerks unterwiesen hat, aber das ist eine andere Geschichte und tut hier wohl nichts zur Sache. Ihr dürft mich übrigens Ciro nennen, das tun alle. Nur, wie gesagt: Im Augenblick solltet ihr mich wirklich nicht unterbrechen.

Es ist nun schon fast einen Götterlauf her, dass ich mich hier in Perricum niedergelassen habe. Eine herrliche Stadt, keine Frage. Allein, sich mit den hiesigen Diebesgilden zu arrangieren, erwies sich doch schwieriger als gedacht. Das Wertvollste, was mir meine Meisterin mitgab, war die Diebeskarta, so eine Art Ehrenkode für Diebe. Bitte verzeiht meine Offenheit, aber Ehre scheint unter den Mitgliedern der hiesigen Gilden ein rar gesätes Gut zu sein.

Jedenfalls versuche ich den Umgang mit den Diebesgilden so weit wie möglich zu meiden. An Abgaben zahle ich so wenig wie möglich, denn offen gestanden ekeln mich ihre Methoden an. Ich lebe in der Hoffnung, dass ihnen durch meine Aktivitäten mehr Einnahmen entgehen, als sie durch meine Abgaben kassieren. Und natürlich hoffe ich auch, dass sie das nicht allzu bald bemerken. Ich kann mich doch auf eure Verschwiegenheit verlassen? Ich meine, wenn ihr nicht schweigen könnt, wer dann? Hab ich nicht recht? Gut.


Kapitel 1: Von Dieben und Mördern

Zurück zu meiner Geschichte: Alles begann vor drei Tagen. Da wurde die erste Tür gestohlen. Jedenfalls war es der erste Fall, von dem ich Wind bekommen hatte. Ich meine, wer bitteschön stiehlt eine Tür und lässt alles Übrige unangetastet? So etwas erregt Aufmerksamkeit. Noch aufmerksamer wurde ich, als der arme Tropf, dem die Tür gestohlen worden war, in der nächsten Nacht auf unschöne Weise umgebracht wurde. Das war also vor zwei Tagen.

Vor einem Tag wurde wieder eine Tür gestohlen, was uns schon zur letzten Nacht führt. Da legte ich mich nämlich auf die Lauer, um zu sehen, ob wohl jemand auftauchen würde, der dem neuerdings türlosen Zimmermann ans Leben wollte.

Die Zügigkeit, mit der sich der Türdiebstahl ereignet haben musste, und die Tatsache, dass niemand vor der Stadtwache aussagen wollte, deuteten auf eine der Gilden hin. Da sich zudem keine Gilde über Türdiebstähle in ihrem Revier zu beschweren schien, vermutete ich, dass die Finsterwölfe dahinter steckten. Ihnen gehört nämlich das Gebiet, in dem die Türen gestohlen worden waren.

Ich hatte also in einer Gasse Stellung bezogen, von der aus ich die Tür, oder vielmehr das provisorisch verbarrikadierte türförmige Loch in der Wand, gut im Auge behalten konnte. Dann kam mir in den Sinn, dass ich wohl ein Idiot sein müsse, und ich eilte ungesehen um das Haus herum. Würde ich nämlich versuchen hier einzusteigen, würde ich es sicher nicht von der Straßenseite aus tun, insbesondere, da der gute Dalman aus der Stadtwache gerade auf seinem nächtlichen Patrouillengang um die Ecke bog.

Ich kam eben noch rechtzeitig im mondbeschienenen Hinterhof an, um die durchaus rahjagefällige Kehrseite einer mir bekannten Diebin zu sehen, die sich gerade durch ein aufgebrochenes Fester ins Haus schlängelte.

Das war zweifellos Aylas Hinterteil. Ich hatte es schon des öfteren gesehen, wenn wir uns des Nachts zufällig über wen Weg liefen, hin und wieder auf der Jagd nach der selben Beute. Ayla war flink, geschickt, schlagfertig und ich hätte sie wirklich mögen können, wenn sie nicht ausgerechnet zur Gilde der Finsterwölfe gehören würde. Ehrlich gesagt war ich enttäuscht, sie hier zu sehen. Ich meine, die Gilde ist rücksichtslos und brutal, aber in Ayla hatte ich nie eine Mörderin gesehen. Hatten die Finsterwölfe sie geschickt, den Zimmermann zu töten?

Geräuschlos huschte ich über den Hof und glitt durch das offenstehende Fenster. Gerade wollte ich mich nach meiner Rivalin umschauen, als sich ein gewaltiger Schatten über den staubigen Boden der Schreinerei ergoss. Langsam wandte ich meinen Blick zurück zum Fenster und dort auf dem Fensterbrett, eingehüllt ins Licht des Vollmondes, saß Jonas.

Der schneeweiße Kater mit den leuchtend gelben Augen regte keinen Muskel, während er mich mit vorwurfsvoller Miene anstarrte. Ich ließ meinen angehaltenen Atem entweichen und beschloss, den alten Besserwisser zu ignorieren. Falls er nur hier war, um mir zu sagen, dass ich mich mal wieder in Gefahr begab, konnte er sich das getrost schenken. Falls Mada ihn geschickt hatte, mir hinterher zu spionieren… Nun, auch dagegen konnte ich im Augenblick wenig tun. Hätte ich versucht ihn zu verscheuchen, hätte mich das dämliche Fellknäuel am Ende noch angefaucht und meine Anwesenheit verraten.

Während ich weiter durch die Werkstatt schlich und angestrengt auf jedes Geräusch lauschte, sprang der Kater auf leisen Pfoten ins Haus und heftete sich in lauernder Haltung an meine Fersen, gerade so als pirschten wir uns gemeinsam an ein ahnungsloses Vögelchen oder eine Maus heran. In dem Moment hörte ich im Stockwerk über uns eine Tür knarren. Da war unser Mäuschen also. Falls sie es auf das Leben des Zimmermanns abgesehen hatte, blieb keine Zeit mehr!

Mit wenigen Schritten hechtete ich die Treppe hinauf und sah Ayla, die sich mit gezogenem Messer zu mir umwandte. Sie stand auf einer Türschwelle, hinter welcher ich im dämmrigen Licht das Schlafzimmer des Hausherrn erahnen konnte. Auch ich hatte mein Messer gezogen und so standen wir uns wer weiß wie lange schweigend gegenüber. Schließlich war sie es, die mit zischender Flüsterstimme das Schweigen brach: „Ciro? Was beim Namenlosen machst du hier? Bist du seinetwegen gekommen?“ Sie deutete mit einer raschen Kopfbewegung in Richtung Schlafzimmer. „Ich dachte immer, heimtückischer Mord wäre nicht dein Stil. Hast du nicht irgend so einen dämlichen Kodex?“ Damit hatte sie mich überrumpelt. Es war beinahe, als hätte sie mir meinen Text geklaut. Statt zur verbalen Gegenattacke über zu gehen, erwischte ich mich doch tatsächlich dabei, ihre Frage zu beantworten: „Ähm… ja, na klar hab ich den. Das ist sogar die erste Regel der Diebeskarta: Wir foltern nicht, wir morden nicht.“ In diesem Moment ging mir auf, was sie da gerade gesagt hatte. „Dann bist du auch nicht hier, um ihn zu töten?“ Sie schüttelte den Kopf. „Die Gilde hat mich geschickt, um ihn zu beschützen.“

Ich versuchte ganz ruhig und gefasst zu reagieren, aber die Enthüllung, dass die Finsterwölfe sich neuerdings als edle Retter in der Not verdingten, brachte mich wohl doch ein ganz klein wenig aus der Fassung. Damit will ich sagen: Ich stand da und gaffte sie mit offenem Maul und weit aufgerissenen Augen an. „Deine Gilde? Dieses mörderische Pack versucht jemanden zu beschützen? Habt ihr dem armen Kerl nicht erst gestern wie ein Haufen Wandalen die Vordertür demoliert?“ Jetzt war sie es, die um Selbstbeherrschung ringen musste. „Wir haben überhaupt nichts demoliert, kapiert? Wir haben sie gestohlen. Das war eine hervorragend geplante und sauber ausgeführte Aktion gewesen!“

Ein plötzliches schnarrendes Geräusch hinter Ayla ließ uns erschrocken herumfahren. Es war das Schnarchen des Hausherrn, der sich von einer Seite auf die andere wälzte. Ein Zimmermann mit Leib und Seele sägt eben auch im Schlaf. Nachdem wir uns sicher waren, dass er nicht erwachen würde, ergriff ich wieder das Wort: „Dann haben sich die Finsterwölfe jetzt also auf Türdiebstähle spezialisiert? Kannst du mir das bitte mal erklären?“ Aylas dunkle Augen verengten sich zu Schlitzen. „Ich muss dir gar nichts erklären! Jedenfalls fürchtet die Gilde, dass jemand dem Alten das Licht ausblasen will. Deshalb soll ich ihn in Sicherheit bringen.“ Ich brauchte einen Augenblick, um das zu verarbeiten. „Du willst ihn entführen?“ Zum Zeichen des Guten Willens steckte ich demonstrativ mein Messer weg und sie tat es mir gleich. Dann nickte sie. „Zu seiner eigenen Sicherheit, ja. Hast du damit ein Problem?“

Ich wollte gerade darauf Hinweisen, dass Entführung gegen die dritte Regel der Diebeskarte verstößt, als wir das Knarren der Treppenstufen hörten. Jonas, der sich während des gesamten Gesprächs still verhalten hatte, fauchte wild und sprang hinter mich. Ayla trat an meine Seite. In stillem Einvernehmen nickten wir einander zu und zogen unsre Dolche.

Es war unmöglich, dass dem Eindringling das Fauchen des Katers entgangen war, dennoch blieben seine Schritte ruhig und gleichmäßig. Vermutlich hatte er auch unser Gespräch in aller Ruhe belauscht. Ich ärgerte mich über meine Nachlässigkeit, schob den Gedanken aber schnell beiseite, um meine Aufmerksamkeit ganz auf die Gestalt zu richten, die gerade die Treppe hinauf stieg und sich aus den Schatten schälte.

Ein groß gewachsener, hagerer Mann trat uns aus der Dunkelheit entgegen. Bis auf einen Sehschlitz war sein Gesicht, wie auch der Rest seines Körpers, von schwarzem Tuch verhüllt, ein Attentäter wie er im Buche steht. An der Seite trug er einen Khunchomer mit geschwärzter Klinge. Nichts an seiner Körperhaltung deutete darauf hin, dass er uns anzugreifen gedachte. Er stand nur schweigend da, als wolle er uns die Gelegenheit geben einfach weg zu gehen und ihn seine Arbeit verrichten zu lassen.

Zudem vermutete ich, dass der gute Mann nicht mit uns hätte sprechen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Professionellen Attentätern wird oft schon in jungen Jahren die Zunge herausgeschnitten, damit sie ihre Auftraggeber selbst unter Folter nicht verraten können. Außerdem passen Geschwätzigkeit und Meuchelmord einfach nicht zusammen. Darum bin ich auch lieber Dieb als Mörder. Ich schätze nämlich eine gute Konversation. Aber ich schweife ab.

Wo war ich stehen geblieben? Ach ja: Der Attentäter stand einfach so da und wir standen ihm zu dritt gegenüber: Zwei Diebe in schwarzem Leder und ein Kater in weißem Fell. Keiner von uns war gewillt zurück zu weichen und wie auf ein geheimes Kommando stürmten wir aufeinander los!

Der Attentäter zog seinen Khunchomer und schwang die gebogene Klinge in unsere Richtung. Ayla setzte mit einem Salto darüber hinweg, während ich auf den Knien schlitternd unter seinem Hieb hindurch tauchte und mit meinem Dolch auf seinen Knöchel einzustechen versuchte. Leider reagierte der Mann schneller als erwartet. Mit einem Satz sprang er nach vorne und entging meiner Dolchattacke. Dummerweise stand er nun an der Tür zum Schafzimmer, während Ayla und ich am oberen Rande der Treppe zum Stehen kamen. Für einen Moment schien er abzuwägen, ob er uns angreifen oder sich seinem Ziel zuwenden sollte. Ich ahnte seine Entscheidung voraus und rannte auf ihn zu, während er sich umdrehte und ins Schafzimmer stürmte. Sicher hätte ich ihn auch zu fasse gekriegt, wenn nicht dieser verdammte Kater mit einem Mal vor meine Füße gerannt wäre! Ich strauchelte, stolperte und fiel zu Boden, wodurch ich um Haaresbreite dem Wurfmesser entging, das Ayla dem Attentäter hinterher geworfen hatte. Der Attentäter hatte weniger Glück. Er stand vor dem Bett des Zimmermanns, den Khunchomer hoch über den Kopf erhoben, als wolle er das ganze Bett mit nur einem Streich zerteilen, da bohrte sich das Messer in seinen Rücken und schickte ihm mit einem letzten Aufschrei zu Boden.

Der kehlige, zungenlos ausgestoßene Schrei schreckte schließlich auch den Hausherrn aus seinem Tiefschlaf und hallte bis hinaus auf die Straße. Nun konnte es nicht mehr lange dauern, bis auch die Wache das Haus stürmen würde.

Der Zimmermann, ein hagerer Geselle um die 40 Götterläufe mit spitzem Kinn und strähnigem Haar, kauerte sich am Kopfende seines Bettes zusammen und tastete mit zittrigen Fingern nach seiner Brille. Ich ließ ihm keine Zeit sich zu sammeln. Aus meiner Tasche fischte ich einen Knebel, schwang mich zu ihm aufs Bett und erstickte seinen Aufschrei noch ehe dieser seine Kehle verlassen konnte. Während ich den guten Mann fesselte, schwang sich Ayla rittlings auf den Rücken des niedergestreckten Angreifers und trieb ihm ihr Messer so tief sie konnte in den Leib. Ein schauderhaft knackendes Geräusch ließ keinen Zweifel mehr daran, dass der Attentäter spätestens jetzt seinen Weg in Borons Hallen angetreten hatte. Angewidert deutete ich auf das blutige Messer. „Das hätte auch mich erwischen können!“ Darüber dachte sie einen Moment nach. Dann zuckte sie mit den Schultern. „Macht nichts. Ich hätte noch ein weiteres gehabt.“

Im Stockwerk unter uns hämmerte jemand von Außen gegen den verbarrikadierten Hauseingang. „Hey! Was geht da drinnen vor?“ Ja, das war Dalman. Unter all den Triefnasen, die sich Stadtwächter schimpfen, ist er einer der wenigen, die ich respektieren kann. Er ist nicht immer der hellste, doch anders als bei den meisten seiner Zunft glaube ich, dass er die Menschen dieser Stadt wirklich beschützen will.

„Los, gehen wir!“, zischte ich Ayla zu und ließ den gefesselten Hauseigentümer auf seinem Bett zurück. Alya zückte einen kleinen silbernen Schlüssel aus ihrer Tasche, der im Mondlicht auffallend hell funkelte. Dann packte sie den sich windenden Zimmermann und schleifte ihn zu einer schmalen Tür, hinter der sich, ausgehend vom Grundriss des Hauses, eigentlich nichts weiter als eine Abstellkammer oder ein Kleiderschrank verbergen konnte. Mit einem feinen Klicken drehte sie den silbernen Schlüssel im Türschloss.

„Was tust du da?“, fragte ich leicht überrumpelt. „Willst du ihn da drinnen verstecken? Wozu?“ Als die Tür einen Spalt aufschwang, konnte ich zu meiner Verblüffung einen schwachen Fackelschein erahnen und glaubte zudem leise Stimmen von jenseits des Spalts zu hören. Ohne ein Wort der Erklärung stieß sie den Zimmermann durch die Tür, bevor sie sich noch einmal mir zuwandte. „Also dann, lass dich nicht schnappen, Ciro!“ Dann verschwand auch sie in der Kammer und schloss die Türe hinter sich. Mit nur zwei Schritten folgte ich ihr durch den Raum, riss die Tür auf… und starrte auf einen Putzeimer und einen Wischmop. „Magie“, knurrte ich leise.

Ein heftiges Rumpeln unter meinen Füßen riss mich aus meinen Gedanken und machte mir klar, dass es Dalman wohl endlich gelungen war, die Barrikade zu überwinden. „Maaauu!“, jaulte der weiße Kater. Ich sah mich um. Wo war Jonas eigentlich? Das Jaulen kam von jenseits eines geschlossenen Fensterladens. Ich öffnete den Laden und da saß er auf dem Ast einer knorrigen Steineiche, wenigstens 3 Schritt vom Fenster entfernt. Wie er nach draußen gelangt war, würde wohl sein Geheimnis bleiben. Wie ich entkommen würde, war hingegen weniger rätselhaft. Ich nahm so viel Anlauf wie die kleine Kammer erlaubte und machte einen Hechtsprung durch das Fenster. Meine Finger bekamen einen der äußersten Äste zu fassen, der sich unter meinem Gewicht durchbog und brach. Ich landete auf den Füßen. Jonas saß vor mir und leckte sich die Pfote, als wolle er sagen: „Wird ja auch Zeit dass du endlich kommst.“

Nachdem wir einige Minuten lang durch die nächtlichen Straßen und Gassen Perricums gelaufen waren, ohne dass uns jemand zu verfolgen schien, nahmen wir uns schließlich einen Augenblick Zeit zu verschnaufen. „Also, ich weiß nicht genau, was Ayla da gerade abgezogen hat, aber da war auf jeden Fall Zauberei im Spiel.“ Ich betrachtete den Kater, der den Kopf schief legte und mich mit seinen goldgelben Augen musterte. „Ich denke, es wird Zeit, dass wir deine Freundin besuchen.“


Kapitel 2: Die Zähne der Raubkatze

Ich vermute, einige von euch haben wohl schon von der blinden Hellseherin mit dem weißen Haar gehört. Mada Schneefuchs gehört zu meinen ältesten Bekanntschaften. Gemeinsam mit mir ist sie vor gut einem Jahr aus Kuslik hierher in den Norden gereist und hat sich in kürzester Zeit einen beachtlichen Ruf geschaffen. Ich meine, wen wundert‘s? Wer sie ansieht, glaubt die wahrhaftige Verkörperung ihrer göttlichen Namenspatin vor sich zu sehen. Doch eins kann ich euch sagen: hinter der Fassade aus Anmut, Mysterien und Reinheit verbirgt sich das wilde Herz der Stute und der listige Geist des Fuchses.

Und falls ihr euch das gefragt habt: Nein, ich bin ihr noch nicht verfallen. Das verdanke ich wohl meinem phexgegebenen Instinkt, der mich vor Fallen warnt. Versteht mich nicht falsch: Ich betrachte Mada als Freundin, vielleicht gar als meine beste Freundin. Beispielsweise würde sie sich nie darüber beschweren, dass ich, wie in diesem Moment, mit größter Selbstverständlichkeit des Nachts durchs Fenster in ihr Haus steige. Sie respektiert meine Natur ebenso wie ich die ihrige. Doch wenn sie lächelt, seh ich im Geiste stets die scharfen Zähne einer Raubkatze, die sich hinter diesem Lächeln verstecken.

Im Augenblick schlief das Raubkätzen jedoch. Ich trat hinter dem wallenden Vorhang in die Dachkammer, wo sie sich ihr Nachtlager eingerichtet hatte. Ich sog den Duft von Räucherstäbchen und Parfüm ein, der hier zu jeder Zeit in der Luft lag und mich, wie alles andere in diesem Raum, mit leichter Wehmut an meine Heimat erinnerte. Der Holzboden war mit Teppichen ausgelegt, die in Musterung und Farbe aus dem lieblichen Felde hätten stammen können. Von der Decke baumelten Windspiele aus Buntglas, die das Mondlicht einfärbten und in sanften Wogen durch den Raum tanzen ließen.

Ich schmunzelte. Meine eigene Dachkammer war wesentlich pragmatischer eingerichtet. Klar, man sollte meinen, dass sich ein Meisterdieb wie ich mit kostbaren Schätzen umgibt, aber ehrlich gesagt: Ich stehle allein für den Nervenkitzel und die Herausforderung. Ich verkaufe was ich erbeute und investiere den Lohn in bessere Ausrüstung. Was aber meine Einrichtung betrifft, lebe ich eher bescheiden: Ein paar Schränke, ein paar Truhen, eine Waschschale und ein schlichtes Bett. Mehr brauche ich eigentlich nicht.

Apropos Bett: Ihr Bett war alles andere als schlicht. Es stand in der Mitte des Raums, war kreisrund, maß etwa einen Schritt in der Höhe und gut zweieinhalb Schritt im Durchmesser. Und dort in der Mitte, zusammengerollt zwischen Kissen und bunten Decken, lag Mada in weißem Seidenhemd. Ihr langes, weißblondes Haar war wie ein Fächer um sie herum ausgebreitet und rahmte ihr feengleiches Gesicht ein. Wie gesagt: Jeder andere Mann hätte ihr leicht verfallen können, aber all das wirkte zu perfekt, zu inszeniert, um Zufall zu sein. Mada Schneefuchs setzte sich selbst im Schlaf gekonnt in Szene.

„Na, hast du dich genug umgesehen?“, fragte sie plötzlich ohne auch nur einen überflüssigen Muskel zu bemühen. Sie hatte nicht geschlafen. Natürlich hatte sie nicht geschlafen. Mit einem Lächeln richtete sie sich auf uns setzte sich im Schneidersitz auf ihr Bett. Die Augenlider ließ sie geschlossen. Wozu sollte eine blinde Hellseherin auch ihre Augen bemühen? Sofort sprang Jonas auf ihren Schoß und fixierte mich mit seinem leuchtend gelben Augen, während sie ihm über das Fell streichelte. Ich weiß, es mag verrückt klingen, aber ich hatte oft das Gefühl als könne sie mich durch die Augen des Katers sehen.

„Was führt dich zu mir, Ciro?“ Ich kratzte mich verlegen am Hinterkopf. „Nun, eigentlich dachte, ich, dass du mich vielleicht sprechen willst. Dein Katerchen hat mich mal wieder bei der Arbeit gestört. Ich schwöre, irgendwann werde ich noch geschnappt, weil die Wachen spitz kriegen, dass sie nur nach einer weißen Katze Ausschau halten müssen, um mich zu finden!“ Ich wartete auf irgendeine Reaktion, natürlich vergeblich. Ihr zuckersüßes Lächeln blieb unverändert. „Aber wie auch immer“, fuhr ich schließlich fort, „Wenn Jonas auftaucht, ist irgendwie immer Magie im Spiel, gerade so als ob er sie aufspüren würde.“ Jetzt öffnete Mada ihre Augen und richtete ihren milchig leeren Blick direkt auf mich. „Seltsam“, sagte sie in ruhigem Ton. Dann hob sie ihren Kater an und beide blickten sich auf eine Weise an, als würden sie ein stummes Zwiegespräch führen.

Schließlich wandte sie sich wieder mir zu. „Diese junge Frau mit den dunklen Augen gehört zu einer der Diebesgilden, nicht wahr?“ Es überraschte mich nicht, dass sie Ayla erwähnte. Irgendwie wusste Mada immer über alles Bescheid, was ihr Kater erlebt hatte. „Ja, sie gehört zu den Finsterwölfen. Das sind so ziemlich die schlimmsten Halsabschneider, manchmal wortwörtlich. Und plötzlich stehlen sie Türen und entführen deren Besitzer, damit die nicht von Auftragsmördern umgebracht werden. Ist das verrückt oder seh nur ich den Zusammenhang nicht?“

Jetzt musste Mada tatsächlich schmunzeln. „Es wirkt schon ein wenig… ungewöhnlich. Aber wenn ich bedenke, dass deine süße Kollegin in einer Besenkammer verschwunden ist, vermute ich, dass da mehr dahinter steckt. Es hat alles mit diesem silbernen Schlüssel zu tun.“ Ich nickte stumm. Ich hatte Aylas seltsamen Schlüssel nur für einen Moment gesehen, war mir aber sicher, dass dies kein gewöhnlicher Schlüssel für eine Besenkammer war. „Das ist irgend so ein magisches Ding, nicht wahr?“ Ohne darauf zu antworten stand Mada plötzlich auf. „komm mit mir!“

Mit flinken, sicheren Schritten eilte die blinde Hellseherin durch den Raum, die Wendeltreppe hinunter in jenen Teil des Hauses, wo sie ihre zahlende Kundschaft zu empfangen pflegte. Hier herrschte eine ganz andere Atmosphäre. Die Gerüche waren weniger weich, dafür würziger. In den Regalen türmten sich Tierschädel und Flaschen voll geheimnisvoller Tinkturen. Ich wusste genau, dass das alles zur Darbietung gehörte, unnötiges Brimborium, das die Kunden beeindrucken und auf subtile Weise einschüchtern sollte. Es wirkte.

„Setz dich!“, kommandierte sie mit freundlicher Stimme, die dennoch keinen Widerspruch zuließ. Ich nahm auf einem der drei Stühle platz, die um den kleinen runden Tisch in der Mitte des Raumes herum standen. Mada ging zu einer Truhe und kehrte mit einem etwa kopfgroßen Gegenstand zurück, der in ein rotes Tuch eingewickelt war. Auf dem Tisch entfaltete sie das Tuch und legte eine bläulich schimmernde Kristallkugel frei. Ich hob theatralisch eine Augenbraue. „Willst du mir jetzt meine Zukunft vorhersagen?“ Mada beachtete mich kaum und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit dem nebligen Wabern, das sich nun im inneren der Kugel zu bilden schien. „Dazu brauche ich keine Kristallkugel. Du endest im Gefängnis oder mit einer Klinge im Bauch.“ Ich ließ die Augenbraue wieder sinken. „Du bist keine Hellseherin, du bist eine Schwarzseherin! Also, was zeigt uns dein magischer Hokuspokus?“

In diesem Moment sprang Jonas auf den Tisch und kauerte sich vor Mada, sodass ich seine gelb leuchtenden Augen durch die Kugel verzerrt und auf gespenstische Weise vergrößert sah. Dann veränderte sich das Bild und aus den Katzenaugen wurde Aylas silberner Schlüssel. Irgendwie ahnte ich, dass ich ihn nun so sah, wie ihn der Kater im Haus des Zimmermanns wahrgenommen hatte, und ich musste zugeben: Im Halbdunkel der Schlafkammer waren Jonas Augen den meinen deutlich überlegen gewesen. Der Schlüssel selbst schien tatsächlich aus poliertem Silber zu bestehen. Der filigrane Schlüsselbart deutete auf eine komplexe Schlossmechanik hin und die Schlüsselreite zierte das Symbol des Phex: Ein stilisierter Fuchskopf umgeben von einem Kreis, der den vollen Mond andeutete. Mada pfiff durch die Zähne. „Wirklich hübsch. Vielleicht bekomme ich einen Eindruck von dem ursprünglichen Besitzer.“ Mit einer Hand kraulte sie den Nacken ihres Katers, während die Fingerspitzen der anderen Hand über den Kristall glitten.

Das Bild des Schlüssels zerfloss und wurde ersetzt von einem groß gewachsenen, schlanken Mann um die 30 Götterläufe mit einer auffälligen Hakennase und haselnussbraunem Spitzbart, das dunkelbraune Haupthaar streng zurück gekämmt. Er trug schlichte hellbeige Leinenkleider mit lederner Weste und einem breiten Gürtel, an dem neben einigen Beuteln und Taschen auch ein schmaler Dolch hing. Um den Hals trug er eine silberne Kette, die unter dem Leinenhemd verschwand. Etwas an dem was ich sah kam mir seltsam vertraut vor, obschon ich den Mann wohl noch nie gesehen hatte. Es dauerte einen Moment bis es mir plötzlich klar wurde. Es war der Hintergrund. Hinter dem Mann war deutlich eine Gasse zu erkennen, nicht viel anders als andere Gassen und doch erkannte ich sie wieder: Hier gab es einen verborgenen Zugang zu einem Versteck der Finsterwölfe.

„Danke, damit kann ich was anfangen“, sagte ich und stand auf. Im selben Moment löste sich das Bild in der Kristallkugel in Rauch auf. „Du hast was gut bei mir. Ich lass dich wissen, was ich rausgefunden hab.“ Auch Mada war aufgestanden und hatte mir den Rücken zugewandt. „Du willst da hingehen und diesen Mann finden. Richtig?“, fragte sie ohne sich zu mir umzudrehen. Sie ging auf einen schweren Vorhang im hinteren Bereich des Raums zu, hinter dem sie sich auf ihre Auftritte als mystisches Medium vorzubereiten pflegte. Ich war mir nicht sicher, ob sie wirklich eine Antwort auf ihre Frage erwartete, aber sie redete ohnehin weiter. „Na ja, egal. Ich werde jetzt sowieso keinen Schlaf mehr finden.“

Mit diesen Worten löste sie das schmale Band, das ihr seidenes Nachthemd um ihre Hüften geschlossen hielt und ließ den Stoff von ihren Schultern gleiten. Ich erinnere mich noch, wie ich dachte, dass dies bereits das zweite rahjagefällige Gesäß war, dass ich in dieser Nacht zu Gesicht bekam. Dann kam mir der Gedanke, dass ich vielleicht etwas sagen sollte. „Ähm… was genau hast du jetzt vor?“ Über ihre Schulter hinweg lächelte sie mich an. „Na, ich begleite dich natürlich.“ Ihr lächeln und ihr Tonfall waren von einer Art, die keinen Widerspruch duldeten. Dann verschwand sie hinter dem Vorhang. Ich seufzte. Da waren sie: Die verborgenen Zähne der Raubkatze.


Kapitel 3: In den Schatten

Praios schickte bereits die ersten schwachen Strahlen des neuen Tages über die Dächer der Stadt, wodurch die Schatten in den Straßen und Gassen noch schwärzer wirkten.

Mada hatte sich etwas, wie sie fand, passenderes angezogen: Sie trug ein langes, weißes, ärmelloses Kleid, dass dank eines weißen Ledermieders eng an ihrer Taille anlag. Darüber hatte sie sich ein, natürlich ebenfalls weißes, Cape gebunden, dessen Kapuze ihr tief ins Gesicht fiel und das trübe Weiß ihrer Augen verbarg. Kurz gesagt: Sie hätte unmöglich auffallender gekleidet sein können. Aber das war nun mal ihre Natur und jetzt war es an mir, damit zurecht zu kommen.

Immerhin trug sie festes Schuhwerk und stellte sich nicht einmal ungeschickt an, während sie mir durch die Schatten folgte. Tatsächlich bewegte sie sich mit der selben scheinbar mühelosen Leichtigkeit, die auch ihrem Kater gegeben war und die man von einer blinden Frau niemals erwarten würde.

Jonas folgte ihr auf Schritt und Tritt und streifte dabei immer wieder den Saum ihres Kleides. Bei jeder Berührung nickte sie kurz. Ich hatte schon des öfteren beobachtet, wie die beiden sich als Einheit bewegten. Es war faszinierend und erinnerte beinahe an einen Tanz. Natürlich gab es Unauffälligeres als eine hinreißend schöne Frau in weißem Kleid, die mit ihrem weißen Kater durch die nächtlichen Straßen tanzt.

Ihr seht also: Dass wir nicht ungesehen unser Ziel erreichten war schwerlich meine Schuld.

Die Gasse war bereits in Sicht, als sie uns schließlich eingekreist hatten. Sie kamen von beiden Seiten und ließen uns keinen Raum zum Rückzug.

Die Mitglieder der Diebesgilden tragen nicht gerade Uniformen, doch wenn man weiß, worauf man achten muss, sind sie in der Regel nicht allzu schwer zu erkennen. Die Blutkrähen beispielsweise tragen Tätowierungen oder Narben in Form von drei Strichen, die eine Kralle darstellen sollen. Im Fall der Finsterwölfe sind es zwei kurze Striche, eingerahmt von zwei langen, keilförmigen Strichen. Ich vermute, es soll an die Reißzähne eines Wolfes erinnern und ich frage mich, ob ich ihnen mal sagen sollte, dass es eigentlich vier kurze Striche sein müssten. Damit könnte ich ihnen so richtig die Laune vermiesen.

Jedenfalls waren es eindeutig Finsterwölfe, die uns jetzt den Weg verstellten. Aus der Gasse, die wir zu erreichen versuchten, drangen Kampfgeräusche zu uns herüber. Ich hörte schnelle Schritte und immer wieder Klingen, die aufeinander trafen. Im Augenblick aber mussten wir uns um unser eigenes kleines Problem kümmern. Mada und ich standen Rücken an Rücken. Ich hielt einen Dolch in der einen und ein Wurfmesser in der anderen Hand. Mada ging ein wenig in die Hocke und ich spüre eine Art Hitzewelle von ihr ausgehen. Ein kurzer Blick offenbarte mir, dass sich ihre Finger in lange, schwarz schimmernde Krallen verwandelt hatten. Unter ihrem Cape glommen ihre Augen im gleichen goldenen Licht wie die ihres Katers, der ihr jetzt nicht von der Seite wich und unsre Freunde von der Gilde fauchend mit gesträubtem Fell beobachtete.

Ich hasse Gewalt. Ehrlich gesagt bin ich weder im Austeilen noch im Einstecken sonderlich gut. Worin ich gut bin, ist im Vermeiden. Ich umgehe meine Widersacher lieber als mich ihnen zu stellen. Manchmal kann man einen Konflikt auch mit Worten umgehen. Manchmal. „Wir sind nur auf der Durchreise. Und wir haben auch nichts von Wert bei uns.“ Na ja, ich konnte es zumindest versuchen. Drei Männer und zwei Frauen kamen langsam auf uns zu. Die Frauen und einer der Männer hielten Messer in den Händen. Die zwei anderen Männer waren eher von der grobschlächtigen Sorte, jener Sorte die gerne knüppelt. Diese Sorte hasse ich am meisten.

„Du bist Ciro. Ayla hat uns erzählt, dass du deine Nase mal wieder in Sachen steckst, die dich nichts angehen.“ Ich war überrascht. Das war einer der Knüppler, der da gerade das Wort ergriffen hatte. Und was er sagte klang sogar halbwegs intelligent. Da kann man doch mal sehen, wie sehr der Schein oftmals trügt. „Also genau genommen hab ich ihr geholfen. Seid ihr vielleicht gekommen, um mich für meine Unterstützung zu entlohnen?“ Also gut, jetzt spielte ich eher auf Zeit. Deeskalierende Gesprächsführung sieht zwar anders aus, aber manche Typen lassen sich gerne auf Wortgefechte ein. Vielleicht war der grobschlächtige Kerl ja im Inneren ein Meister der Rhetorik. Und schon setzte er zu einer gewieften Erwiderung an: „Los, schnappt sie euch!“ Andererseits, vielleicht auch nicht.

Ich erspare euch die Einzelheiten des Kampfes. Nur soviel sei gesagt: Er war kurz aber episch! Mada stürzte sich völlig undamenhaft auf den zweiten Knüppler und trieb ihm ihre Klauen in den Hals und ins Gesicht. Der Boden erzitterte als der große Kerl jaulend unter ihr zusammenbrach. Ich selbst trieb mein Wurfmesser einer der Messerschlitzerinnen in die Schulter, worauf sie nun messerlos dastand. Ich schaffte es sogar noch, sie mit einem schnellen Streich meines Dolches in die Knie zu zwingen, als ich auch schon das Messer der zweiten Schlitzerin an meiner Kehle spürte. Ich ließ meinen Dolch fallen und blickte hoffnungsvoll zu Mada hinüber, die sich aber inzwischen hilflos im Griff des rhetorisch begabteren Knüpplers wand. Ihre Klauen hinterließen blutige Striemen im massigen Unterarm ihres Peinigers, doch je stärker er zudrückte, desto mehr erstarb ihr Widerstand. Kurz gesagt: Es sah gerade nicht allzu rosig für uns aus. Dann fiel mir auf, wie still es auf einmal war. Auch die Kampfgeräusche in der Gasse waren erstorben. Und ebenso wie den Geräuschen würde es auch uns gleich ergehen.

Und plötzlich war da der Fremde aus der Kristallkugel. Die Kleider des spitzbärtigen Mannes waren teilweise zerschlissen und blutverschmiert, doch er bewegte sich mit erstaunlicher Gelassenheit und trug ein verschmitztes Lächeln zur Schau, während er aus der finsteren Gasse ins Licht der nächsten Straßenlaterne trat.

Von einem Augenblick auf den anderen galt alle Aufmerksamkeit allein ihm. Und ich meine nicht allein die unserer Angreifer. Auch ich und selbst Mada konnten unseren Blick nicht von dem Fremden lösen. Ich bin nun wirklich kein Experte für Zauberei, aber selbst ich ahnte, dass das mehr als Magie war. Ich verspürte… Ehrfurcht!

Dann Sprach der Fremde: „Husch, Husch!“ Zwei Worte und alles war vorbei. Die Finsterwölfe nickten eifrig und konnten sich gar nicht genug beeilen, ihre Verwundeten zu schnappen und sich aus dem Staub zu machen.

Kaum waren sie außer Sichtweite, war auch der Bann des Fremden plötzlich gebrochen. Die Aura aus grenzenloser Zuversicht und schierer Willenskraft war mit einem Schlag verschwunden als der Spitzbärtige keuchend in sich zusammensackte. Jetzt erst konnte ich die zahlreichen Verletzungen, Schnittwunden und Prellungen sehen, die der Unbekannte wohl im Kampf in der Gasse davongetragen hatte.

Mada und ich liefen auf ihn zu. Die Hellseherin beugte sich über ihn, wobei sich ihre blutverschmierten Krallen wieder in zierliche Hände verwandelten. Alle Wildheit war aus ihren Zügen verschwunden während sie ihn mit erstaunlicher Zärtlichkeit und wahrhaftiger Traurigkeit in die Arme nahm. Dann begann sie zuerst seine Wunden und schließlich seine Lippen mit Küssen zu bedecken, gerade so als sei er ihr Liebster, der gerade aus der Ferne zu ihr zurückgekehrt sei, und nicht ein völlig Fremder, den sie in dieser Nacht zum ersten mal sah. Und während sie im Verlauf ihrer innigen Liebkosung allmählich schwächer zu werden schien, ging der stockende Atem des Fremden immer ruhiger und gleichmäßiger.

Im Schein der Straßenlampe betrachtete ich mir den spitzbärtigen Mann genauer. Sein Leinenhemd war eingerissen und gab den Blick auf den Edelstein frei, den er an einer silbernen Kette um den Hals trug. Ein leuchtend blauer Mondstein. Nur um sicher zu gehen streifte ich seinen Ärmel nach oben und betrachtet mir die Innenseite seines rechten Unterarms. Da war es: Das Symbol des Fuchsgottes. „Der Mann ist ein geweihter Phexdiener“, flüsterte ich Mada zu. Sie hob ihren Blick. „Ach, ist dir das auch schon aufgefallen, ja?“

Gemeinsam hoben wir den Fremden an und trugen ihn in die Gasse. Bis der Tag endgültig die Nacht vertreiben würde, musste es noch fast eine Stunde dauern. Ich wusste nicht, wie lange es wohl noch dauern würde, bis die Finsterwölfe es sich anders überlegen und uns erneut angreifen würden. Also beschloss ich, die Flucht nach vorne zu wagen. In den Gassen waren wir eine leichte Beute. Im Versteck der Finsterwölfe gab es verborgene Winkel und Räume, in die sich so gut wie nie jemand verirrte.

Zwischen zwei Häusern, die scheinbar Wand an Wand gebaut waren, gab es in Wahrheit einen vermauerten Spalt, der am unteren Ende eine niedrige Lücke aufwies. Da die Gasse schmal und sehr verwinkelt war, erreichte das Tageslicht selbst zur Praiosstunde niemals die verborgene Lücke, wodurch sie nahezu unsichtbar war. Erst als ich mich bückte und scheinbar in der Wand verschwand, begriff Mada und half mir, den halb Bewusstlosen durch den geheimen Zugang zu ziehen.

Im Inneren des Spalts tasteten wir uns eine schmale Treppe hinunter, die schließlich zu einer alten hölzernen Kellertür führte. Die Tür war immer verschlossen. Sie verriegelte sich bei jedem Schließen durch einen raffinierten Mechanismus. Zudem war sie von innen mit Eisenstangen verstärkt und weitaus robuster als sie den Anschein erweckte. Statt eines normalen Schlüssellochs, gab es nur ein kleines Löchlein, gerade groß genug für einen Dietrich. Hier durfte eben nicht jedermann rein.

Zu unserem Glück war ich nicht jedermann. Das Schloss hatte ich in 15 Sekunden geknackt. Mit einem befriedigenden Klicken glitt der Riegel zurück und gab uns den Weg in den verwinkelten Kellerbau der Gilde frei.


Kapitel 4: Unter den Straßen

Schmale Gänge aus feuchtem, modrigem Mauerwerk, nur spärlich ausgeleuchtet durch trübe flackernde Öllampen... Die Zuflucht der Finsterwölfe war ein wahrhaftes Labyrinth. Alte Holztüren mit schwerem Eisenbeschlag führten in Kammern, die einst der Stadtwache als Gefängniszellen, Wachstuben oder Lagerräume gedient hatten. Unter uns gab es noch mindestens 2 weitere Ebenen, verbunden durch Leitern und ausgetretene Treppen.

Offiziell existierten all diese Gänge und Kammern schon lange nicht mehr. Sie waren zugeschüttet worden, nachdem das Gebäude darüber aus ungeklärten Gründen bis auf die Grundmauern niedergebrannt war. So stand es in den offiziellen Papieren. Heute standen dort längst neue Gebäude und damit war die Angelegenheit erledigt und vergessen. Schon vor Monaten hatte ich versucht, in den Archiven der Stadt einen Grundriss des alten Wachhauses zu ergattern. Es dürfte euch wenig überraschen zu hören, dass das vergebliche Liebesmüh war.

Damit will ich sagen: Meine Kenntnisse über den inneren Aufbau der Zuflucht waren gelinde gesagt mangelhaft. Auf der obersten Ebene, wo wir uns nun aufhielten, kannte ich mich zumindest noch ein wenig aus. Ich hatte der Gilde den einen oder anderen mehr oder weniger genehmigten Besuch abgestattet und mich bei diesen Gelegenheiten ein bisschen umgesehen. Einige Kammern dienten als Zwischenlager für verschiedene Güter. Diese waren in der Regel verschlossen und gelegentlich sogar bewacht.

Andere Kammern waren spärlich mit Strohbetten und anderem Mobiliar eingerichtet worden. Hier konnte man meist unbehelligt ein und aus gehen und für einige Tage abtauchen, falls man mal unbeabsichtigt zu viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Das Problem war, dass man nie wissen konnte, auf wen man dort traf.

Schließlich gab es noch jene Räume, die durch das Feuer Schaden erlitten und tatsächlich ganz oder teilweise eingestürzt und verschüttet waren. Einige Bereiche galten als unzugänglich oder unbewohnbar. Das waren für mich die interessantesten.

Mada und ich stützten den Geweihten, der inzwischen wieder halbwegs klar im Kopf zu sein schien. Jonas lief stets einen Schritt vor uns, so als kundschafte er die Lage aus. Ich führte unsre kleine Gruppe jene Gänge entlang, die mir am sichersten erschienen und tatsächlich war Phex wohl mit uns, denn wir trafen auf keine Menschenseele und auch aus der Ferne war kein Geräusch zu hören. Dann erreichten wir einen Gang, der sich in der Finsternis verlor. Hier waren keine Öllampen aufgehängt worden. Den Grund dafür kannte ich. Er lag dort im Dunkeln, keine 30 Schritt entfernt.

Das war der Moment, indem wir hinter uns das ferne Knarren einer Tür hörten. Vielleicht waren es jene freundlichen Gesellen, die uns in den Straßen aufgelauert hatten. Vielleicht waren auch nur unbescholtene Diebe, die einen Platz zum Schlafen suchten. Ich wollte nicht warten, um es heraus zu finden.

So tasteten wir uns den stockdunklen Gang entlang, bis wir an die Stelle kamen, an der sich das Mauerwerk abgesenkt und den Gang blockiert hatte. Was außer mir noch niemand bemerkt zu haben schien: Die abgesenkte Decke hatte die linke Mauerwand beschädigt. Einige Steine waren zermalmt und andere ausreichend gelockert worden, dass ich sie mit wenig Anstrengung hatte lösen können. Der entstandene Durchbruch war etwa 2 Spann hoch, gerade ausreichend um drunter durch zu kriechen. Natürlich hatte ich das Loch mit einigen Steinen wieder provisorisch verborgen.

Das war vor acht Wochen gewesen und ich war seitdem nicht mehr hier gewesen. Dennoch fanden meine Finger auch in völliger Dunkelheit die Stelle sofort wieder. So leise wie möglich schob ich das Gestein zur Seite und legte den Durchgang frei.

Nachdem wir uns alle unter der massiven Steinmauer hindurch gewunden hatten, verstellte ich den Durchbruch wieder und schob die verkohlten Überreste einer Tür davor, um sicher zu gehen, dass kein Lichtschein mehr durch die Ritzen fallen würde. Dann zog ich Feuerstein und Anzünder aus meiner Tasche und entzündete eine der Lampen, die hier an schweren Eisenketten von der Decke hingen.

Ein schwacher, orangeroter Lichtschein erhellte die geräumige Halle um uns herum und offenbarte Ketten, die von den Wänden und der Decke baumelten, gruseliges Schmiedewerkzeug neben einer Feuerschale und eine hölzerne Bank, deren auffallende Mechanik, inklusive Hand- und Fußfesseln, keinen Zweifel an ihrem Verwendungszweck ließen. „Willkommen in meinen Reich“, flüsterte ich mit ausladender Handbewegung. Meine Begleiter musterten ihre Umgebung mit unverhohlener Abscheu. Ich konnte es ihnen nicht verübeln.

Wir zogen uns ans hintere Ende der Kammer zurück bevor wir in Flüsterton unser weiteres Vorgehen besprachen. „Wir bleiben hier eine Stunde“, schlug ich vor. „Wenn der Tag angebrochen ist, gehen wir wieder nach oben und du kannst uns vielleicht ein paar Fragen beantworten.“ Diese Worte hatte ich an den Geweihten gerichtet, der jetzt mit ernster Mine den Kopf schüttelte. „Nein, genau hier wollte ich hin. Und ich gehe erst wieder, wenn ich gefunden habe, wonach ich suche.“ Dann senkte er seine Stimme weiter zu einem kaum hörbaren, bedrohlichen Zischen. „Mein Name ist Chadim. Ich würde mich ja für euren Beistand bedanken, aber letztendlich habt ihr nur mehr Gildenmitglieder angelockt, euch überrumpeln lassen und mich so genötigt euch zu retten. Alles in Allem habt ihr mir meine Mission doch eher erschwert, also… nichts für Ungut. Ihr könnt ja wieder nach oben steigen, aber mein Weg führt mich weiter nach unten.“

Ich schaute kurz zu Mada herüber, deren gebannter Blick deutlich machte, dass ihr wohl die gleichen Fragen durch den Kopf gingen wie mir. Wenn Mada und ich eine Eigenschaft teilten, dann war es die Neugier. „Zuerst einmal wollen wir ein paar Antworten“, entgegnete ich schließlich mit möglichst fester Stimme. „Was sucht ein geweihter Diener des Phex aus dem verborgenen Tempel im Unterschlupf einer Diebesgilde? Und warum zum Namenlosen entführen die Finsterwölfe irgendwelche Stadtbewohner und stehlen Haustüren?“

Damit hatte ich seine Aufmerksamkeit. Chadim hob eine Augenbraue und sah mich eindringlich an. „Was weißt du über die Sache mit den Türen?“ Ich atmete tief durch und beschloss mit offenen Karten zu spielen. „Ich weiß von einem silbernen Schlüssel. Ich habe gesehen, wie ein Mitglied der Gilde damit durch eine Tür ging und einfach verschwunden ist. Der Schlüssel trägt das Symbol des Fuchsgottes. Bist du deswegen hier? Ist das vielleicht dein Schlüssel?“

Die Andeutung eines Lächelns huschte über das Gesicht des Geweihten. „Also darüber entscheide ich nicht. Darüber entscheidet allein Phex. Im Augenblick gehört der Schlüssel den Finsterwölfen. Schließlich haben sie ihn erfolgreich aus dem verborgenen Tempel gestohlen. Ich dagegen möchte dieses Besitzverhältnis möglichst bald wieder ändern. Also ja, ich bin hier, um mir den Schlüssel zurück zu holen. Und vielleicht hat der Fuchsgesichtige euch ja geschickt, um mir dabei zu helfen.“

Ich nickte, was Chadim wohl als Zustimmung auslegen mochte. Ich hingegen war nur froh, endlich ein paar Antworten zu bekommen. Also bohrte ich weiter. „Und was hat das ganze mit der Entführung des Zimmermanns und dem Diebstahl seiner Haustür zu tun?“ Der Geweihte zögerte einen Moment. Schließlich kam er vermutlich zu dem Schluss, dass es wohl besser wäre, uns reinen Wein einzuschenken, insbesondere falls wir tatsächlich von seinem Gott persönlich geschickt worden waren.

„Der Schlüssel der verborgenen Pfade öffnet beinahe jedes Schloss, solange es zu einer fremden Tür gehört. Statt auf die andere Seite gelangt man dadurch jedoch an jeden beliebigen Ort, den man schon einmal gesehen hat. Phex duldet keinen Mord, deswegen funktioniert es nur, wenn der eigentliche Besitzer der Tür wohlauf ist. Ich vermute die Finsterwölfe haben erkannt, wie nützlich es sein kann, eine gestohlene Tür ständig zur Verfügung zu haben. Natürlich müssen sie dann für die Sicherheit des Besitzers sorgen.“

Verblüfft stieß ich den angehaltenen Atem aus. Das ganze klang einfach nur verrückt. Dennoch ergab das Verhalten der Gilde nun irgendwie einen Sinn. Um sicher zu gehen, fasste ich das ganze nochmal zusammen. „Mit dem Schlüssel und der gestohlenen Tür kommen sie also so ziemlich überall rein und auch wieder raus. Das dürfte die Finsterwölfe zur mächtigsten Gilde von allen machen. Aber falls der Besitzer getötet wird, wird seine Tür für sie nutzlos.“

„Genau“, bestätigte Chadim, „Deswegen müssen wir uns den Schlüssel zurückholen. Seid ihr dabei?“ Ich wusste genug über die Kirche des Phex um zu wissen, was jetzt von mir erwartet wurde. „Und was springt für uns dabei raus?“

Ganz ehrlich: Ich hätte es auch umsonst getan. Wann kriegt man schließlich schon mal die Chance, einer Diebesgilde so heftig eins auszuwischen? Aber für die Diener des Phex gilt nun mal: Jede Leistung verlangt nach einer Gegenleistung. Also saßen wir in dieser Folterkammer und verhandelten. Zuerst wusste ich gar nicht, was ich verlangen sollte, aber dann kam mir das eine in den Sinn, das ich schon immer einmal tun wollte.

Um es kurz zu machen: Chadim war einverstanden. Aus seiner Tasche kramte er Pergament, Tintenfässchen und Federkiel. Dann setzten wir einen Vertrag auf, unterzeichneten ihn und besiegelten das Ganze mit einem Handschlag. Rückblickend hätte ich genauer auf den Wortlaut achten sollen, dann wären wir jetzt nicht in dieser Situation, nicht wahr. Aber sei‘s drum.

„Und wie finden wir wir nun diesen Schlüssel?“, fragte ich, nachdem der Vertrag unterzeichnet und in meiner Tasche verstaut war. Abermals griff Chadim in seine Tasche. Diesmal zog er eine Karte hervor, die doch tatsächlich den Grundriss des Kellergewölbes zeigte. Ich sparte mir die Frage, wie er da ran gekommen war. Offenbar hatte es allerlei Vorzüge ein Geweihter des Gottes der Diebe zu sein. „Laut Karte gibt es da diesen Raum, in dem man früher die schlimmsten Schwerverbrecher bis zu ihrer Hinrichtung untergebracht hat. Zumindest früher war dieser Ort besser verteidigt als jeder andere Raum hier unten. Ich rede von unüberwindlichen Sicherheitsmechanismen und tödlichen Fallen!“ Die unverhohlene Vorfreude in seiner Stimme angesichts der vor uns liegenden Gefahren ließ mich schmunzeln. „Also wenn ich ein Finsterwolf wäre und den Schlüssel verstecken müsste, würde ich es dort tun“, beendete er seine Ausführungen.

Ich griff nach dem Plan und begann, die oberste Seite zu studieren. „Tja, ich schätze mal, diese Hochsicherheitszelle ist nicht gleich hier nebenan, oder?“ Chadim grinste und schüttelte den Kopf. Dann hob er den Zeigefinger… und deutete nach unten.

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