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Ciro Schattenläufer: Verborgene Pfade (Teil 2)

Kapitel 5: Auf Irrwegen

Vier Ebenen, so tief ragte das Gewölbe tatsächlich in die Erde. Die dritte Ebene erreichten wir noch ohne nennenswerte Zwischenfälle. Ein paarmal mussten wir uns eine alternative Route suchen, um Wächter zu umgehen oder herumstreunenden Gildenmitgliedern auszuweichen. Es half, dass wir uns den Gebäudeplan eingeprägt hatten, weil es stets mehrere Wege hinab auf die nächsttiefere Ebene gab. Es half auch, dass Mada zuvor zweimal durch den schmalen Spalt zur Folterkammer hatte kriechen müssen, da ihr Kleid nun nicht mehr weiß, sondern eher aschgrau und weit weniger auffällig war.

Kurz vor der vierten Ebene änderte sich alles. Das ging damit los, dass es, entgegen dem Plan, nur noch eine einzige breite Treppe hinab zu dieser Ebene gab. Ein zweiter, schmalerer Treppenabgang und ein Leiterschacht waren offenbar zugemauert worden. Der Zugang zu besagter verbliebener Treppe war mit einem Gittertor verschlossen. Das allein wäre wohl noch kein Hindernis gewesen. Das eigentliche Hindernis bestand in dem über 2 Schritt hohen, griesgrämig dreinschauenden Koloss, der hier offenbar als Wächter abgestellt worden war und mit polternden Schritten vor dem Tor auf und ab patrouillierte.

Glücklicherweise brannte eine Laterne gleich neben dem Gitter, wodurch sich die Augen des Wächters nicht an das dämmrige Licht des Ganges gewöhnen konnten. So konnten wir uns relativ gefahrlos ein Stück weit aus einem angrenzenden Seitengang herauslehnen, ohne gleich entdeckt zu werden. Der glatzköpfige Riese mit der breiten Nase und dem schartigen Breitschwert trug ein Lederwams, dass sich über seinen fülligen Leib spannte. Eine wulstige Narbe zog sich von seinem Ohr bis zu seiner Oberlippe. Womöglich hätten wir es zu dritt mit ihm aufnehmen können, aber kaum ohne jeden auf dieser und der nächsten Ebene auf unsre Anwesenheit aufmerksam zu machen.

Während Chadim und ich noch im Geiste unsre Optionen durchgingen, war Mada bereits zur Tat geschritten. Kurzentschlossen hatte sie ihre Schuhe ausgezogen und mir in die Hand gedrückt. Dann strich sie sich über ihre Kleider und eine seltsame Veränderung ging mit ihr vor, die ich in der Dunkelheit nicht genau benennen konnte. Bevor einer von uns sie aufhalten konnte, trat Mada aus dem Seitengang in den Schein der nächsten Lampe, direkt vor den riesigen Wächter. Doch die Person, die da plötzlich im Licht stand, hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Mada, die ich kannte. Dort stand nun ein kleines Mädchen um die 8 Götterläufe mit struppigem strohblondem Haar und zerschlissenen Kleidern.

„Hey Kleine, du hast hier nichts verloren“, brummte der Riese. „Los, lauf zurück zu deiner Mami!“ Statt zu antworten, hob das Mädchen einen Stein vom Boden auf und zog eine Zwille aus der Tasche ihres Lumpenkleids. Der Große schüttelte ungläubig den Kopf „Lass den Unsinn, du dummes Gör!“ Lächelnd und in aller Seelenruhe spannte das Mädchen die Zwille... und schoss. Pfeifend sauste der Stein durch die Luft und knallte mit Wucht gegen den Oberschenkel des Wächters. „Autsch, verdammt! Na warte, du kleine Kröte!“ Während der Wächter schon auf sie zugestampft kam, streckte ihm die Kleine noch die Zunge heraus. „Bääh!“ Dann machte sie auf dem nackten Fuße kehrt und rannte in die Dunkelheit, vorbei an dem Seitengang, in dem Chadim und ich uns versteckt hielten. Mit hochrotem Kopf rannte der Wächter ihr hinterher und war Augenblicke später um die Nächste Ecke verschwunden.

Nun blieb uns nicht viel Zeit. Gleichgültig ob er das Mädchen zu fassen bekäme oder nicht, er würde seinen Posten sicher nicht lange verlassen. Außerdem hoffte ich, dass sein Stolz ihn davon abhalten würde, bei seiner Jagd nach einem kleinen Mädchen um Hilfe zu rufen. Darauf hatte vermutlich auch Mada gesetzt. Ich betete, dass sie dem großen Kerl würde entkommen können. Dann schob ich den Gedanken beiseite und eilte auf das Gittertor zu, wobei ich bereits mit geübtem Griff meine Dietriche aus der Tasche zog. Chadim und Jonas folgten mir lautlos.

Es dauerte 20 Sekunden, dieses verfluchte Schloss zu knacken! 20 Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, da ich jeden Moment damit rechnete, dass der Riese hinter uns auftauchen und mir sein rostiges Messer durch den Leib treiben würde. Und gerade als das Schloss endlich nachgab, hörte ich die Schritte auf uns zugerannt kommen. Ich wollte bereits meinen Dolch ziehen, als mir klar wurde, dass es nackte Füße auf steinernem Grund waren. Ich öffnete das Gittertor und und keine Sekunde Später waren Chadim, Jonas und das strohblonde Mädchen hindurchgeschlüpft. Ich folgte ihnen, zog das Tor zu und wollte mich gerade daran machen, das Schloss wieder zu verschließen, als polternde Schritte die Rückkehr des übel gelaunten Riesen ankündigten.

Schnell eilten wir einige Stufen die Treppe hinab und kauerten uns in die Dunkelheit, während der massige Wächter wieder seinen Posten bezog. Wir konnten nur hoffen, dass das geöffnete Schloss möglichst lange unbemerkt bleiben oder zumindest kein Aufsehen erregen würde.

Leise schlichen wir Stufe für Stufe abwärts und erreichten schließlich einen uralten, schmalen Tunnelgang mit gewölbter Decke, der sowohl nach links als auch nach rechts führte und in regelmäßigen Abständen von Fackeln erhellt wurde. Der Tunnel beschrieb einen leichten Bogen. Von Chadims Plan wusste ich, dass es sich um einen Rundgang handelte, der einen Kreis bildete und schließlich wieder zur Treppe zurück führte. Die Karte zeigte keine Abzweigungen oder Türen. Ich konnte nur vermuten, dass eine weitere Kammer im Zentrum des Kreises lag, deren Zugang auf dem Plan nicht eingezeichnet war.

Wir folgten dem Gang nach links. Die Fackeln bildeten Inseln aus Licht, zwischen denen der Gang immer wieder in vollständiger Dunkelheit versank. Als wir aus dem Dunkel in den Schein der nächsten Fackel traten, war das kleine Mädchen plötzlich verschwunden und an ihrer Stelle stand nun wieder Mada im Licht. Ich erwartete keine Erklärung und sie gab mir keine. Magie war ihr Metier und ich hatte gelernt, mich mit dem Unerklärlichen abzufinden. Lächelnd streckte sie ihre Hand in meine Richtung aus und nach einem Moment der Verwirrung gab ich ihr ihre Schuhe zurück.

Der Tunnel beschrieb tatsächlich einen Kreis und am Ende standen wir wieder am Fuß der Treppe. Weder waren wir auf Abzweigungen, noch auf Türen gestoßen. Auch im Dunkeln hatte ich die Wände nach verborgenen Gängen oder Schaltern abgetastet, leider vergeblich. Ich hätte ja die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es hier tatsächlich nichts zu entdecken gab, wenn da nicht der Wächter gewesen wäre. Niemand würde einen sinnlosen Rundgang bewachen. Was zur Niederhölle übersah ich hier?

Dann wurde mir plötzlich klar, was ich übersehen, oder vielmehr überhört hatte: Der Wächter! Seine polternden Schritte waren nicht länger zu hören. Nun, vielleicht war er einfach nur mal stehen geblieben, hatte sich hingesetzt oder ein Nickerchen gemacht. All das war möglich, aber mein Instinkt sagte mir, dass hier etwas nicht stimmte. Also schlich ich wieder die Stufen nach oben. Und siehe da: Der Wächter war verschwunden! Leise versuchte ich, das Gittertor zu öffnen. Es war verschlossen. Ganz allmählich formte sich in meinem Geist ein Gedanke, fast schon eine Theorie.

Ich stieg die Stufen wieder hinan. „Wartet kurz hier“, flüsterte ich Mada und Cadim zu. „Ich muss nur kurz was überprüfen.“ Dann lief ich allein eine Runde durch den engen Tunnelgang. Als ich schließlich zur Treppe zurück kam, hatten sich die beiden scheinbar in Luft aufgelöst. Dafür hörte ich nun wieder die Schritte des Wächters von oben herab hallen. Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf. Entweder spielten hier alle ein äußerst albernes Versteckspiel mit mir, oder aber es gab zwei Treppen, die zu zwei identischen Gittertoren führten. Hier im Dunkeln war es leicht, die Orientierung zu verlieren. So hatten wir statt einer Runde lediglich eine halbe hinter uns gebracht und waren am anderen Ende des Rundgangs angekommen.

Ich kehrte zu den anderen beiden auf die Rückseite des Ganges zurück und versuchte, ihnen die Lage zu erklären. Sie wirkten zunächst wenig überzeugt. Also führte ich sie die Treppe hinauf. Der Raum hinter dem Gitter sah haargenau so aus, wie jener, den wir auf dem Weg hierher durchquert hatten. Mit wenigen Handriffen hatte ich das Schloss geöffnet. Diesmal ging es deutlich schneller. „Genau von hier sind wir gekommen“, beharrte Chadim. „Nein, sind wir nicht“, erwiderte ich und versuchte möglichst überzeugt zu klingen. Die Täuschung war perfekt, aber es musste einfach eine Täuschung sein!

Wir gingen zurück in den Gang, aus dem wir scheinbar gekommen waren. Hier hatte Mada in Gestalt des blonden Mädchens den riesigen Wächter abgelenkt. Nein, erinnerte ich mich. Wir sollten nur denken, dass es der selbe Gang ist. Das ganze war ganz offensichtlich eine…

Es war natürlich eine Falle. In der trügerischen Sicherheit zu wissen, was hinter der nächsten Biegung liegt, vergisst man jede Vorsicht. Und so blickte ich entsetzt in den Abgrund, der sich da wie aus dem Nichts vor uns auftat! Ein Fuß trat ins Leere. Eine Hand krallte sich gerade noch rechtzeitig in eine Fuge der Seitenwand und bewahrte mich vor dem tödlichen Sturz. Schwer atmend zog ich mich von der gähnenden Leere zurück.

Auf eine Distanz von etwa 8 Schritt hatte der Gang einfach keinen Boden. Nun, vermutlich war da doch irgendwo ein Boden, aber er musste wenigstens 20 Schritt unter unseren Füßen liegen, dort wo sich alles in tiefschwarzer Dunkelheit verlor. Ich war keineswegs scharf darauf, ihm einen Besuch abzustatten. Jenseits des Abgrunds ging der Gang weiter und führte zu einer schwarzen Holztüre.

Nun bestand zumindest kein Zweifel mehr, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Ich sah mich um. Wahrscheinlich gab es auf dieser Seite irgendeinen Mechanismus, mit dem man die Schlucht überwinden konnte. Schließlich war das hier früher mal so eine Art Verlies gewesen. Klar, wer oder was immer da jenseits der schwarzen Tür war, sollte nicht heraus gelangen können. Aber eigentlich musste es doch zumindest einen Weg hinein geben. Auf der andern Seite des Abgrunds bemerkte ich eine längliche Vertiefung im Mauerwerk. Ich beugte mich über den Rand und entdeckte die Kante einer Holzplanke, die sich Stück für Stück herausziehen ließ. Die Planke fügte sich anstandslos in die Vertiefung ein und bildete eine hölzerne Brücke.

Chadim strahlte vor Freude und machte sich augenblicklich daran, den Abgrund zu überqueren. Er bewegte sich mit bewundernswerter Gelassenheit. Mada und ich folgten ihm deutlich behutsamer.

Als wir drüben ankamen, hatte er die Tür bereits geöffnet. Offenbar verfügte sie über kein erkennbares Schloss, lediglich über eine Klinke. Nun, das machte uns die Sache einfacher… und mich nervöser. Alles was einfach wirkt, tendiert dazu, mich nervös zu machen. Ich vermute dann immer sofort eine Falle. Bestenfalls erweist sich mein Verdacht als unbegründet. In diesem Fall tat er das leider nicht.


Kapitel 6: Göttliche Prüfung

Der Raum hinter der schwarzen Tür war achteckig, durchmaß an die 5 Schritt und war etwa 10 Schritt hoch. Die acht Wände neigten sich am oberen Ende aufeinander zu und vereinten sich über unsren Köpfen zu einem steinernen Kuppeldach. In jede Wand war eine schwere, eisenbeschlagene Tür eingelassen. Neben jener Tür, durch die wir gekommen waren, gab es also noch sieben weitere Türen, hinter denen wohl die berüchtigten Kerkerzellen liegen mussten. Und hinter einer dieser Türen lag hoffentlich auch unser kleiner magischer Silberschlüssel. Öllampen an den Wänden tauchten den Raum in ihren rötlichen Schein.

Was unsre Blicke aber sofort fesselte, war die steinerne Skulptur in der Mitte des Raums. Genau genommen, waren es vier Statuen, die zu einem Standbild angeordnet waren.

Im Zentrum stand ein junger Prinz oder König in herrschaftlichem Gewand mit reich verzierter Krone auf dem Haupt und wissendem Lächeln auf den Lippen. Ornamente auf der Kleidung zeigten ein stilisiertes Auge und die Schwingen eines großen Raubvogels. Zu seinen Füßen stand ein schlichter tönerner Krug. Die Arme hielt er ausgebreitet und deuteten auf zwei goldene Schalen, die von zwei weiteren steinernen Figuren gehalten wurden.

Die zwei Gestalten knieten links und rechts neben dem Gekrönten. Sie hielten ihre Blicke gesenkt, als wagten sie es nicht, den Mann in ihrer Mitte anzuschauen.

Die linke Figur zeigte einen Mann, dessen Alter sich schwer abschätzen ließ. Er trug das schlichte Tuch eines Bettlers oder Vagabunden. Langes, glattes Haar fiel ihm fließend über die Schultern und rahmte ein schmales Gesicht ein, in dessen Augen sich Wehmut und Traurigkeit widerspiegelten.

Bei der rechten Figur handelte es sich zweifellos um eine junge Frau. Das ließ sich schon deswegen problemlos erkennen, da sie, abgesehen von einigen Blüten in ihrem lockigen Haar, keinerlei Kleidung trug. Trotz des demütig gesenkten Blickes umspielte ein zartes Lächeln ihre Lippen.

Auch bei der vierten Gestalt handelte es sich um eine junge Frau, gekleidet in eine schlichte Kapuzenrobe, die ihr Haar bis auf wenige Strähnen verdeckt hielt. Sie lag zu Füßen des Bettlers, zu dem sie mit flehendem Blick hinauf schaute. Ihre eine Hand ruhte auf seinem nackten Fuß, während die andere mit ausgestrecktem Zeigefinger zu dem lächelnden Lockenschopf hinüber deutete.

„Götter“, sagten der Geweihte und ich wie aus einem Munde und nickten uns einvernehmlich zu. Das war nicht schwer zu erkennen gewesen. Bei der Skulptur handelte es sich zweifellos um die Darstellung von vier Alveraniern, die auf eigentümliche Weise zueinander in Beziehung gesetzt worden waren.

Für Mada war das ganze, trotz ihres eigenen alveranischen Namens, scheinbar nicht ganz so offensichtlich. Sie stemmte die Hände in die Hüften, betrachtete die Figuren eingehend aus jedem Blickwinkel und schüttelte schließlich ratlos den Kopf. Chadim lächelte mich gönnerhaft an und deutete mit ausgestrecktem Arm zu den steinernen Gestalten herüber. „Willst du‘s ihr erklären?“

Ich lächelte. „Kein Problem. Also, der überhebliche Kerl in der Mitte ist natürlich der Sonnengott Praios. Auf seiner Kleidung sind das allsehende Auge und die Schwingen des Greifen zu erkennen. Links neben ihm kniet Boron, der griesgrämige Gott des Todes. Und auf der rechten Seite… vielleicht Rahja?“

Okay, das hatte ich nur geraten, weil sie nackt war. Die Liebesgöttin wird schließlich oftmals nackt dargestellt. Anderen Anhaltspunkte hatte ich nicht und natürlich lag ich falsch.

Chadim grinse und stellte sich neben den nackten Lockenschopf. Mit den Fingerspitzen strich er über die Blüten in ihrem Haar. „Wohl eher Tsa, oder?“

Selbstverständlich hatte er recht und ich ich ärgerte mich, das nicht selbst erkannt zu haben. So ergab das ganze Bild auch gleich einen Sinn: Die Göttin des Lebens und der Gott des Todes knieten Seite an Seite und über ihnen thronte der Gott der Gerechtigkeit, schwang sich so gleichsam zum Herrscher über Leben und Tod auf.

Blieb nur noch die junge Frau zu Borons Füßen. Diesmal war ich mir sicher. „Und das hier muss Borons Tochter Marbo sein. Sie legt bei ihrem Vater ein gutes Wort für die Toten ein.“

„Ja, vermutlich“, stimmte mir der Geweihte zu. „Es ärgert mich nur, dass Phex gar nicht vertreten ist. Aber das wäre vermutlich zu viel verlangt, in Herzen einer alten Kaserne meine ich.“ Chadim zwinkerte. „Wie dem auch sei. Wir sind nicht wegen Praios hier, sondern um etwas zu stehlen.“ Mit diesen Worten schritt er an der Skulptur vorbei und ging auf die erste der sieben Türen zu. „Hmm!“, brummte er missmutig und lief zur nächsten, dann zur übernächsten Tür. „Also wirklich, was soll denn das?“ Endlich wandte er sich wieder Mada und mir zu. „Die Schlüssellöcher sind mit Metallblenden verdeckt. Wie soll man denn da reinkommen?“

Ich trat näher an die Praiosstatue heran. „Das ist vermutlich so eine Art Rätsel, eine Prüfung, damit nicht einfach jeder die Zellen aufsperren kann.“ Mit geübten Griffen tastete ich den Kopf der Statue nach verborgenen Schaltern oder einem Hinweis auf einen versteckten Mechanismus ab. Als ich die Krone abtastete, fiel mir etwas auf. „Ich hab‘s immer geahnt. Praios ist ein Hohlkopf.“ Schneller als ich reagieren konnte, war Chadim zu mir herüber geeilt und schlug mir mit der flachen Hand so hart ins Gesicht, dass es durch den Raum hallte. „Autsch! Meine Güte, das... war doch nur ein Scherz!“, brachte ich stotternd hervor. Der Geweihte sah mich mit versteinerter Miene an. „Hab schon bessere gehört“, entgegnete er kühl. Dann atmete er tief durch und fuhr in versöhnlicherem Ton fort: „Ich bin sicher kein Freund von Praios, aber zeig lieber ein bisschen Respekt, Junge. Worauf wolltest du eigentlich hinaus?“ Ich rieb mir währenddessen noch immer die glühende Wange. „Eigentlich meinte ich nur, dass da ein Loch im Kopf der Statue ist, direkt über der Krone.“ Einer Ahnung folgend betrachtete ich mir Praios‘ Hände. „Und da sind auch löcher in den Händen. Wenn man oben etwas einfüllt, dann fließt es direkt in die Schalen.“ Ich lächelte vor Stolz auf meine eigene Genialität und griff nach dem tönernen Wasserkrug.

Mit einem lauten Knall schlug die schwarze Tür zu. Gleichzeitig ertönte ein leises Zischen und die Luft wurde von einem üblen Gestank erfüllt. „Giftiges Gas!“, rief Chadim, lief zur schwarzen Tür und rüttelte am Griff. Nichts tat sich. Ich schaute unter den Krug. Dort war ein Metallstift aus dem Boden gefahren. Ich drückte ihn zurück, doch das Gas strömte weiter durch unsichtbare Schlitze im Mauerwerk in den Raum und die Tür blieb verriegelt.

Offenbar blieb uns nicht viel Zeit, das Rätsel zu lösen. Also hob ich den Krug an, der zu meiner Erleichterung tatsächlich mit Wasser gefüllt war, und füllte etwas davon durch das Loch in Praios‘ steinernen Schädel. Die Augen der Statue leuchteten golden auf, blickten mir bis tief in die Seele und für einen Moment konnte ich mich nicht mehr rühren. Dann verglomm das Leuchten und mit leisem Gluckern floss dass Wasser in Borons Schale. Es hatte einen ungesunden, dunkelroten Farbton angenommen und ich hatte wenig Zweifel an seiner mangelhaften Bekömmlichkeit.

„Es ist eine Prüfung der Seele“, erklärte Chadim das Offensichtliche. Ohne ein Wort übergab ich dem Geweihten den Krug und beobachtete, wie auch er etwas Wasser in das Loch laufen ließ. Wieder leuchteten die Augen der Statue auf… Und wieder floss das Wasser in Borons Schale.

Allmählich wurde mir schwindlig. Das Giftgas begann seine Wirkung zu zeigen. Chadim und ich sahen einander ratlos an. Dann blickten wir gemeinsam zu Mada herüber. „Wie bitte? Ich?“ Mada lachte. „Wenn selbst der Geweihte nicht besteht?“ Schließlich stöhnte sie resignierend, trat vor und nahm den Krug entgegen. „Bleibt uns ja wohl nichts anderes übrig.“ Gespannt verfolgten wir, wie sie das Wasser in den Kopf der Statue laufen ließ und reglos erstarrte, als die leuchtenden Augen in ihren Geist blickten. Dann gluckerte es leise und das Wasser floss abermals in Borons Schale.“

Ich sank auf die Knie, hustete und röchelte, während mir ganz allmählich schwarz vor Augen wurde. „Vielleicht sollten wir es einfach trinken“, meinte Mada mit halb erstickter Stimme. Ich schüttelte energisch den Kopf. „Aus Borons Händen kann man nur Tod, Schlaf und Vergessen annehmen. Nichts davon rettet uns jetzt!“ Statt dessen nahm ich einen Schluck aus dem Krug, doch auch das half nicht. Es war nichts als Wasser.

Ich weiß noch wie ich dachte, wie unfair dieser Test doch war. Vor Praios‘ strengem Blick konnte doch niemand bestehen! Und von dem gnadenlosen Boron war auch keine Rettung zu erhoffen. Dann fiel mein Blick auf die sanftmütige Marbo.

„Wieso… ist sie hier?“, röchelte ich und deutete auf die Statue der am Boden kauernden halbgöttlichen Tochter des Todes. Chadims Augen folgten meinem Fingerzeig. „Marbo ist gnädig“, brachte er hustend hervor. „Vielleicht bittet sie um ein milderes Urteil.“ Das klang logisch, aber irgendetwas daran stimmte nicht. „Warum blickt sie dann zu ihrem Vater und nicht zu Praios? Wenn das Urteil schon gesprochen ist, was kann sie sich dann noch erhoffen?“

Inzwischen konnte ich nur noch Schemen sehen, während jeder Atemzug in meinen Lungen brannte. Mir wurde fürchterlich schwindlig und ich hielt mich an etwas fest. Es war der ausgestreckte Finger Marbos. Sie zeigte noch immer auf die Göttin des Lebens. Da wurde es mir schlagartig klar. „Sie will..., dass sich Boron über Praios‘ Urteil hinwegsetzt!“

Mit letzter Kraft zog ich mich auf die Beine und nahm mit zitternden Fingern Borons Schale. Torkelnd schwankte ich auf die jugendliche Göttin des Lebens zu und füllte das rote Gift in ihre Schale. Es zischte und brodelte, als sich die Farbe des Tranks änderte und ein helles blau annahm. Schon halb ohnmächtig beugte ich mich darüber und trank.

Schlagartig war mein Kopf wieder klar und ich konnte frei atmen. Ich nahm die Schale, trug sie zu Mada, Chadim und Jonas und ließ auch sie trinken. Alle erholten sich augenblicklich.

Es dauerte noch fünf Minuten bis sich die Verriegelung wieder öffnete und die schwarze Tür aufsprang. Zu diesem Zeitpunkt wären wir ohne das Gegengift aus den Händen der Göttin längst tot gewesen. Auch die Blenden vor den Schlüssellöchern der sieben Zellentüren waren verschwunden.

„Gut mitgedacht“, lobte Chadim, während er sich bereits daran machte, das Schloss der ersten Tür mit einem Dietrich zu knacken. „Aber wenn du Praios nicht einen Hohlkopf genannt hättest, hättest du vielleicht auch ohne Marbos Gnade bestanden.“ Erschöpft lehnte ich mich gegen die Wand und ließ mich auf den Boden sinken. „Nein, sicher nicht. Ich bin ein Dieb. Auf Gerechtigkeit kann ich nicht hoffen.“


Kapitel 7: Die Dornenprinzessin

Schätze können verschiedenster Art sein. Gleiches gilt für Schatzkammern. Und man weiß im Voraus nie, was einen erwartet. Genau das macht diesen Beruf so spannend! Man kann noch so gut vorbereitet sein, am Ende steht man doch immer wieder vor dem Unbekannten.

In diesem Fall nahm das Unbekannte die Gestalt von sieben Käfigen an, die sich in den uralten, überraschend geräumigen Kammern hinter den sieben Türen verborgen hatten.

Die Käfige selbst bestanden aus schwarzen, massiven Gitterstangen und erweckten den beunruhigenden Eindruck, dereinst für monströse Riesenvögel konstruiert worden zu sein. Sie waren kreisrund, mit Kuppeldächern versehen und durchmaßen etwa drei Schritt in der Länge und vier Schritt in der Höhe.

Na gut, die Käfige an sich waren soweit natürlich wenig überraschend. Schließlich waren diese Räume ehemals Gefängniszellen gewesen. Sechs der Kammern lagen in gespenstischer Dunkelheit und die schwarzen Käfige darin waren leer. In der siebten Kammer aber brannte das schwache Licht einer einzelnen Öllampe. Und was sich in dem Käfig dieser Kammer befand, war durchaus überraschend.

Zunächst einmal: Dieser Käfig war vollständig von Dornenranken überwuchert, die zum Teil selbst den Boden bedeckten. Von der Decke des Käfigs hing eine Eisenkette herab, und an einem Hacken am Ende dieser Kette baumelte doch tatsächlich unser Schlüssel! Direkt dahinter hatte man einen hölzernen Rahmen aufgestellt, in den eine leicht windschiefe Tür eingelassen worden war.

Auf normalem Wege hätte man durch diese Tür nirgendwo hin gelangen können. Sie stand einfach nur da im Käfig. Mit dem Schlüssel aber, soviel hatte ich inzwischen verstanden, konnte man durch sie an jeden bekannten Ort der Stadt gelangen, ja vielleicht sogar an jeden Ort Aventuriens! Nur eine Sache verwirrte mich ein wenig: Das war nicht die Haustür des Zimmermanns.

Zudem hatte ich gehofft, dass auch der Zimmermann selbst hier unten gefangen gehalten würde. Und als wir den Raum betraten, hatte ich tatsächlich für einen Augenblick geglaubt, jemanden im hinteren Bereich des Käfigs stehen zu sehen. Doch es waren nur ein paar Ranken gewesen, die sich umeinander geschlungen und eine grob menschenähnliche Form angenommen hatten.

Wie die anderen sechs Käfige war auch dieser mit einem alten, robust wirkenden Schloss versehen. Ich gestehe, es erfüllte mich mit nicht unbeträchtlichem Stolz, als der Geweihte seine Bemühungen, das Schloss zu knacken, schließlich aufgeben und mir widerwillig den Vortritt lassen musste. Noch stolzer war ich natürlich, als die rostige Gittertür nach gut drei Minuten endlich quietschend aufschwang.

Etwas, das ich nur als eine Welle aus Kummer und Schmerz beschreiben kann, wehte uns plötzlich entgegen. Dann war da dieses Geräusch zu hören, dass mich zunächst an entfernte Trommelschläge erinnerte. Zeitgleich begann sich etwas im inneren des Käfigs zu regen. Erschrocken trat ich einen Schritt zurück, die Hand am Griff meines Dolches, und blickte gebannt ins Halbdunkel.

Mit unbeholfenen, torkelnden Schritten trat eine Gestalt aus den Schatten. Uns allen stockte für einen Moment der Atem, denn ein Mensch war das nicht. Die Gestalt bestand ganz aus Dornenranken. Tatsächlich waren es die selben Ranken, die mich bereits beim Betreten des Raumes an einen Menschen erinnert hatten. Jetzt waren sie zu unnatürlichem Leben erwacht und stapften schwankend auf uns zu.

Während sich das Wesen näherte, wuchs das Rankengeflecht in seinem Inneren, verästelte sich mehr und mehr und nahm dabei deutlichere Konturen an. Die Gestalt war nun eindeutig als Frau zu erkennen. Die nach oben ragenden Dornen auf ihrem Kopf erinnerten an eine Krone. „Die Dornenkönigin!“, hauchte Chadim überrascht.

Sicher habt auch ihr schon von der urbanen Legende der Dornenkönigin gehört. Sie soll unter den Straßen der Stadt leben und sich vom versickernden Blute jener ernähren, die von Meuchlern heimtückisch abgestochen wurden. Es heißt auch, der Zorn der Ermordeten brenne noch immer in ihrem Blut und treibe die Königin zur Raserei. Dann mache sie sich auf, die Mörder zu jagen und zur Strecke zu bringen. Also ich konnte die Dornenkönigin aus er Legende immer gut leiden. Tja, wie sich herausstellte, mochte die Dornenkönigin mich leider überhaupt nicht.

Mit dornenbewehrten Krallen hieb sie auf mich ein. Glücklicherweise stand ich noch immer außerhalb des Käfigs, den sie offensichtlich nicht verlassen konnte. Ihre Dornenkrallen verfehlten mich nur um Fingersbreite. Das trommelnde Geräusch war inzwischen deutlich angeschwollen, ein dröhnender Herzschlag, der aus ihrer Brust zu kommen schien. Schließlich schwankte sie zurück ins Zentrum des Käfigs, wo sie damit begann, in sturer Beharrlichkeit den Schlüssel zu umkreisen.

„Einer muss da rein und sich den Schlüssel schnappen“, stellte Mada in sachlichem Ton fest. Dabei verschränkte sie demonstrativ ihre Arme, als wolle sie sagen: „Also ich mach das sicher nicht.“ Auch Chadim war offenbar dieser Meinung. Er nickte nur zustimmend und wandte sich dabei mir zu. „Aha, und ihr seid offenbar der Meinung, dass ich das machen soll“, stellte ich fest. „Warum macht sich unser Geweihter nicht mal nützlich? Also auf mich wirkt das Ding da im Käfig ziemlich dämonisch. Ist das nicht irgendwie deine Aufgabe oder so?“ Doch Chadim schüttelte nur bedächtig den Kopf. „Nicht wirklich mein Spezialgebiet. Ich meine, ich könnte deine Waffe weihen, falls du gegen sie kämpfen willst. Aber ich schätze, die Dornen sind ziemlich giftig.“ Na super, das wurde ja immer besser. „Aber ich will überhaupt nicht gegen dieses Ding kämpfen!“,rief ich empört. „Musst du ja auch nicht“, beschwichtigte mich der Geweihte und lächelte versöhnlich. „Du gehst einfach da rein und schnappst dir den Schlüssel. Also, ich würd‘s ja selbst machen, aber du bist jünger und agiler als ich. Außerdem bin ich verwundet.“ Wie um seine Aussage zu unterstreichen, griff er sich mit der rechten Hand an die linke Hüfte und verzog schmerzverzerrt das Gesicht. Irgendwann hab ich mal gehört, dass der Klügere stets nachgeben sollte. Ich muss ja so was von klug sein. „Also schön, bekomm das schon hin.“

Ich bekam das nicht hin. Kaum war ich auch nur einen Schritt im inneren des Käfigs, schlug die Tür zu, und schlagartig hatte ich die volle Aufmerksamkeit der Königin. Ich versuchte, nach dem Schlüssel zu greifen, war aber zu sehr damit beschäftigt, ihren Schlägen auszuweichen und dabei nicht auf die Dornenranken am Boden zu treten. Mada und Chadim rüttelten am Gitter, doch auch dort hatten sich nun dicke Ranken gebildet und hielten das Tor fest verschlossen. Schlimmer noch: Mit jeder Sekunde schien die Königin sich schneller und geschickter zu bewegen, während das Netz aus Ranken auf dem Boden und am Käfiggitter immer dichter wurde. Ich sprang und tänzelte über todbringende Dornen hinweg, bis nur noch ein einziger Fleck blieb, an den ich mich flüchten konnte. Ich presste mich an die letzte Stelle der Gitterwand, die noch nicht überwuchert war, während die Dornenkönigin auf mich zu stolzierte. Ich blickte in ihre leeren Augenhöhlen, hörte den wilden Schlag ihres Herzens und sah, wie sie ihre Krallen für den letzten Streich hob. Dann erstarrte sie und blickte zur Tür des Kerkers, wo in diesem Moment jemand eingetreten war.

Die Halle der Götterstatuen war deutlich heller erleuchtet als die Kerkerkammer. Daher konnten wir die Person, die dort in der Tür stand, zunächst nur als schwarze Silhouette erkennen. „Ciro?“ Diese Stimme hatte ich heute schon einmal gehört. „Sag mal, musst du dich eigentlich überall einmischen oder hast du‘s speziell auf mich abgesehen?“ Ja, da bestand kein Zweifel mehr. Das war Ayla. Die junge Diebin mit dem rabenschwarzen Haar kam auf uns zu und funkelte mich mit ihren großen, dunklen Augen wutentbrannt an.

Manchmal sagt man ja: „Wenn Blicke töten könnten...“ Nun, in diesem Fall war das wohl tatsächlich eine Option. Ich war mir sicher: Die Dornenkönigin wartete nur auf einen einzigen Blick, einen winzigen Fingerzeig, um mir ihre giftigen Stacheln in den Leib zu stoßen. Auf irgendeine Weise hatte Ayla Macht über sie.

Während sich die Diebin dem Käfig nährte, zogen sich die Ranken wie auf ein geheimes Zeichen zurück. Sie würdigte Mada und Chadim keines Blickes, während sie an ihnen vorbei schritt, die quietschende Gittertüre öffnete und zu mir in den Käfig trat. Zu diesem Zeitpunkt glaubte ich, dass sie all ihren Zorn auf mich richtete und deswegen alles andere um sich herum ignorierte. Inzwischen denke ich, dass sie wohl ihre ganze Konzentration brauchte, um die Krallen der Dornenkönigin von meinem Hals fern zu halten. Ayla baute sich vor der gekrönten Gestalt auf, und als sie ihr mit festem Blick in die leeren Augenhöhlen sah, spürte ich wieder eine Welle von Gefühlen. Diesmal war es eine Mischung aus Wehmut und Bedauern. „Du wirst ihn nicht töten, verstanden?“ Die Königin neigte leicht den Kopf und augenblicklich zogen sich all ihre Dornen ins Fleisch der Ranken zurück.

Vorsichtig betraten nun auch Chadim und Mada den Käfig. Schließlich war es Chadim, der das Wort ergriff. „Die Dornenkönigin hört auf dich?“ Ayla wandte sich dem Geweihten zu und bedachte ihn mit einem erstaunten Blick, so als habe sie seine Anwesenheit gerade eben erst bemerkt. „Die Dornenkönigin ist nur ein Mythos. Das hier ist nur eine Wächterin.“ Behutsam, beinahe zärtlich, legte die Diebin ihre Hand auf die Wange der Königin. Das war das erste mal, dass ich Ayla aufrichtig, ohne eine Spur von Spot oder Hochmut, lächeln sah. „Sie war mal ein Mensch, wisst ihr? Aber dann hat sie einen Fehler gemacht. Sie hat sich in den falschen verliebt. Für ihren Liebsten hat sie alles geopfert, am Ende sogar ihren freien Willen.“ Ihre Gesichtszüge verhärteten sich, als sie weitersprach. „Für Koradin war sie nur ein Spielzeug und schließlich ein leichtgläubiges Opfer!“

Ach ja, nur für den Fall, dass ihr das nicht wissen solltet: Koradin ist der wahre Name des obersten Finsterwolfs, den meisten besser bekannt als „Rudelführer“ oder „der Wolfsvater“. Oh, das wusstet ihr schon? Dann verzeiht die Unterbrechung. Wo war ich? Ach ja: Ayla erzählte uns gerade die wahre Geschichte der Dornenkönigin.

„Es gab eine Zeit, da hat sich Koradin mit finsteren Mächten eingelassen. Er kannte diesen Dämonenmeister namens Zaresch, der aussah als würde er an mindestens zehn todbringenden Seuchen gleichzeitig leiden. Jedenfalls überzeugte Zaresch den Führer der Finsterwölfe davon, dass dieser einen unsterblichen Diener bräuchte, um seine wertvollsten Schätze zu bewahren. Dazu musste er nur einen Menschen opfern, der ihm vollkommen loyal ergeben war.“

Für einen Augenblick stockte Ayla in ihrer Erzählung und ich sah, wie sie ihre Hände zu Fäusten ballte. „Weil Tamara ihm bedingungslos vertraute, ließ sie sich auf das Ritual ein. Und da sie ihm im Leben treu ergeben war, ist sie es jetzt auch im Untod. Der Mensch, der sie einst war, ist längst verschwunden. Sie ist nur noch eine leere Hülle, die allein auf Koradins Befehl hört.“

An diesem Punkt mischte sich der Geweihte ein, der bislang aufmerksam schweigend zugehört hatte. „Aber das stimmt nicht. Sie hört auch auf deinen Befehl, nicht wahr?“ Ayla nickte. Dann stahl sich ein Schmunzeln auf ihre Lippen. „Wenn unser große Rudelführer das wüsste, wäre er sicher außer sich vor Zorn! Zu meinem Glück hat er keine Ahnung und ich kann mir seinen tollen Schlüssel ausborgen, wann immer ich mag.“

„Und wieso hört sie auf dich?“, fragte ich, von Neugier getrieben, und merkte sofort, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte. Ayla senkte den Blick und verschränkte die Arme vor der Brust. Es war Mada, die mich auf das Offensichtliche aufmerksam machen musste: „Na weil sie ihre Tochter ist, du Blödmann.“

Ihr könnt euch vorstellen, dass ich mich schlagartig wie Dreck fühlte. Immer wenn wir uns begegnet waren, saß ich auf meinem hohen Moralross, prahlte mit meiner Karta und fragte sie, wieso sie sich nicht einfach von dieser Mörderbande lossagte. Dabei war sie die Tochter des Obermörders, der ihre Mutter auf die schlimmste Art missbraucht und zerstört hatte und immer noch gefangen hielt. Das Bild, das ich mir von Ayla gemacht hatte, änderte sich schlagartig für immer. Sie war keine naive Göre und weit mehr als nur eine talentierte Diebin. Ayla war die Dornenprinzessin.

Ganz ehrlich: Ich sah mich nie als der strahlende Held, der die Jungfer in Nöten aus ihrem Elfenbeinturm befreien würde. Und tatsächlich war es ja Ayla gewesen, die mich gerade gerettet hatte. Trotzdem wollte ich in diesem Moment nichts mehr, als ihre Mutter zu erlösen und sie aus dieser Hölle heraus zu holen. Leider war mir diese Macht nicht gegeben. Zum Glück ahnte ich aber, wem sie gegeben war. Mit leiser, aber fester Stimme wandte ich mich an Chadim: „Jetzt tut mal was für euren Gott!“ Der Geweihte nickte und verstand sofort. Dann streckte er Ayla seine Hand entgegen. „Gib mir bitte deinen Dolch, mein Kind.“

Ich hatte einen Protest oder zumindest ein Zögern erwartet, stellte aber fest, wie überzeugend die Worte eines Phexgeweihten sein konnten. Ayla sah Chadim an und überließ ihm ihren Dolch ohne jeden Widerstand. Der Geweihte strich über die schimmernde Klinge und flüsterte ein paar Worte, die ich nicht verstehen konnte, weil seine Stimme einen seltsam hallenden Klang angenommen hatte. Dann leuchtete das Metall kurz auf und schimmerte im Licht zahlloser Sterne. Mit dem verzauberten Dolch in der Hand stand Chadim da und zögerte. „Wenn ich es versuche, wird sie ihre Dornen ausfahren und mich stechen.“ Mit diesen Worten gab er Ayla ihren Dolch zurück. „Sie wird es zulassen, wenn du es tust.“

Aylas Augen weiteten sich, als sie begriff, was von ihr verlangt wurde. Tränen stiegen in ihren Augen auf und sie biss sich auf die Unterlippe, um den Schmerz zu bekämpfen. Dann nickte sie stumm. Wir anderen traten einen Schritt zurück, gaben ihr Raum um zu tun, was sie tun musste, was nur sie tun konnte. Ayla richtete ihren Dolch auf die Brust der Dornenkönigin, die sie nur stillschweigend anstarrte. Dann wichen die Ranken beiseite und legten ein menschliches Herz frei, das noch immer schlug und dröhnte wie Trommelschläge. Ayla flüsterte ein paar letzte Worte an ihre Mutter, die ich an dieser Stelle nicht wiederholen werde, und stach zu.

Die Königin der Dornen zerfiel zu Staub. Dabei drang ein einzelnes Geräusch aus ihrem angedeuteten Mund. Es war vermutlich das einzige Geräusch, dass sie seit ihrem Tod von sich gegeben hatte: Ein erleichtertes Aufatmen. Im Nächsten Moment war nichts mehr von ihr übrig. Der Dolch klirrte, als Ayla ihn zu Boden fallen lies. Dann brach auch sie schluchzend zusammen.


Kapitel 8: Kammer der Verlorenen

„Danke“, brachte Alya schließlich mit schwacher Stimme hervor. „Ihr könnt das Ding mitnehmen“, sagte sie, ohne dabei aufzuschauen. „Deswegen seid ihr doch hier.“ Ich blickte zu der Kette herüber, an deren Ende eben noch der Schlüssel gehangen hatte. Er war nicht mehr dort. „Sehr freundlich“, entgegnete Chadim und betrachtete dabei das silberne Kleinod in seiner Hand. „Ich war bereits so frei.“

Aus seiner Tasche zog er eine Münze, die mit dem Siegel der Phexkirche geprägt war. Er schnippte sie in die Luft und ließ sie auf auf den Boden fallen, wo sie ein paar mal klingend aufsprang, ausrollte und schließlich zum Liegen kam. „Ich denke, der Rudelführer sollte wissen, dass die Phexkirche sich ihr Eigentum zurückgeholt hat.“ Dann blickte er auf Ayla herab. „Du aber solltest hier wohl besser keine Spuren hinterlassen, Kleine.“

Mit diesen Worten steckte er den Schlüssel ins Schloss der alten Tür. Gerade als er ihn herumdrehen wollte, kam mir noch ein Gedanke. „Aber was ist denn jetzt mit dem Zimmermann?“ Der Geweihte sah mich verdutzt an. „Den brauchen wir nicht zu finden. Ohne den Schlüssel ist die gestohlene Tür für die Gilde nutzlos. Den Besitzer brauchen sie dann auch nicht mehr. Vermutlich werden sie ihn einfach laufen lassen.“ Ayla lachte bitter während sie aufstand und sich den Staub von der Kleidung wischte. „Da kennst du aber meinen Vater schlecht. Doch selbst wenn er wollte, könnte er den Zimmermann nicht gehen lassen. Er hat ihn an einen Ort bringen lassen, der nur mit dem Schlüssel zu erreichen ist.“

Und damit komme ich endlich zur legendären Kammer der Verlorenen und dem eigentlichen Grund, warum ich euch diese Geschichte überhaupt erzähle. Ayla erklärte es uns so: Die Gilde hatte einen Ort erschaffen, dessen Lage weitgehend unbekannt war und den nur wenige Eingeweihte zu Gesicht bekommen hatten. Dann, nachdem sie die gestohlene Tür dorthin gebracht hatten, versiegelten sie den einzigen Zugang gründlich und dauerhaft. Es sollte ein nahezu unerreichbarer Ort werden, eine ideale Schatzkammer… oder auch die perfekte Gefängniszelle, denn eben dort habe man den Zimmermann einquartiert.

Somit war nun endlich auch geklärt, wo die Tür des Zimmermanns abgeblieben war. Für mich stellte sich nur noch eine Frage. „Aber wem zum Gehörnten gehört denn jetzt diese hier?“ Ich deutete auf die alte, leicht morsche Holztür, in der noch immer der silberne Schlüssel steckte. „Oh, die gehört auch Elim“, erklärte Ayla beiläufig. „Als wir gestern Nacht die Haustür gestohlen haben, da haben wir auch gleich seine Kellertür mitgehen lassen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Wir brauchten schließlich zwei Türen: Eine hier beim Schlüssel und eine in der Kammer.“

Elim, das war offenbar der Name des Zimmermanns. Der war mir bis dahin nicht bekannt gewesen, was ich mir natürlich nicht anmerken ließ. Ein guter Einbrecher kennt immer den Namen seines Gastgebers, das gebietet schon allein die Höflichkeit. Andererseits hatte ich den lieben Elim ja gar nicht bestehlen wollen, als ich Ayla in sein Haus gefolgt war. Insofern hatte ich mir da auch nichts vorzuwerfen. Aber ich schweife schon wieder ab.

Nun, Chadim war grundsätzlich nicht allzu begeistert, als ich darauf bestand, den Schlüssel zu nutzen, um den Zimmermann zu befreien. Andererseits klangen die Worte „ideale Schatzkammer“ wohl noch in seinen Ohren nach. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Meine Neugierde war ebenfalls geweckt. Also überließen wir Ayla noch einmal den Schlüssel, damit sie ihn nutzen konnte, um uns den Zugang zur Kammer aufzuschließen. Es klickte und die Tür öffnete sich einen Spalt.

„Na was ist, kommst du mit?“, fragte ich Ayla, doch die winkte ab. „Ihr kommt schon klar. In der Kammer sollte höchstens eine Wache sein. Niemand hält sich gerne dort auf.“ Dann gab sie Chadim den Schlüssel zurück und wandte sich zum gehen. „Warum hält sich dort niemand gerne auf?“, rief ihr Mada hinterher, worauf sich Ayla noch einmal umdrehte. „Weil jeder dort unten ein Gefangener ist, wenn er nicht diesen da hat.“ Sie deutete auf den silbernen Schlüssel in Chadims Hand. Dann wandte sie sich ab und verließ die Zelle.

Mein Herz klopfte vor Aufregung, als wir Elims knarrende Kellertür durchschritten. Ich erwartete eine Art Wunderhöhle voll unglaublicher Kostbarkeiten auf der anderen Seite vorzufinden. Dann erblickte ich sie: Die Kammer der Verlorenen! Es war… ein alter, muffiger Kellerraum. Die abgestandene Luft stank nach Schimmel und es herrschte ein beklagenswerter Mangel an Schätzen. Eigentlich herrschte Mangel an so ziemlich allem. Anders ausgedrückt: Abgesehen von der Tür, durch die wir gerade eingetreten waren, war der Raum vollkommen leer… und dunkel. Der Kater fasste treffend zusammen, was uns wohl allen in diesem Moment durch den Kopf ging: „Mau.“ Ja, es war schon etwas enttäuschend. Ich entzündete meine Laterne, bevor wir die Tür hinter uns schlossen und uns genauer umsahen.

Also gut, streng genommen, war der Raum nicht vollkommen leer. Erstens gab es, wohlwollend formuliert, Atemluft. Zweitens gab es einen schmalen, niedrigen Gang, der an einen Bergbauschacht erinnerte und dessen Wände mit modrigen Holzbrettern verkleidet waren. Wir folgten dem Gang um ein paar Biegungen und gelangten an eine weitere Tür, die ähnlich vermodert und gleichermaßen enttäuschend wirkte. Langsam drückte ich die Klinke herunter, öffnete die Tür einen Spalt weit und wagte einen vorsichtigen Blick hinein. Na also, hier wurde es schon interessanter.

Ich meine, es war immer noch ein trostloser Keller, aber dieser Raum hatte etwas, das der erste nicht hatte: Zwei gemauerte Nischen, die mit Gittertoren verschlossen waren. Zudem gab es hier einige Lampen an den Wänden, die genug Licht spendeten, dass ich meine eigene Laterne getrost löschen konnte. Ich sah mich um und seufzte leise. Gerade waren wir aus einem Kerker entkommen, nur um gleich darauf im nächsten zu landen. Die beiden Nischen waren auf die gleiche, schlichte Weise eingerichtet: Eine hölzerne Pritsche. Mehr gab es da nicht, mal abgesehen von den beiden Männern, die auf den Pritschen lagen und zu schlafen schienen.

Den Mann in der linken Zelle kannte ich nicht. Er mochte um die 50 Götterläufe alt sein und erweckte den Anschein, als habe er schon sein ganzes Leben in Kerkerzellen zugebracht: Seine Kleidung bestand großteils aus Lumpen, seine Haut war bleich und mit Narben übersät, das Gesicht verformt und unrasiert, das spärliche Haupthaar ergraut. Lediglich die Stiefel wirkten robust und beinahe neu. Vielleicht hatte er sie irgendwann mal einem anderen Gefangenen abgenommen, der keine Verwendung mehr für sie hatte.

Den Mann in der rechten Zelle kannte ich durchaus. Das war Elim, der spitzbärtige Zimmermann. Er war noch immer in das gleiche, schlichte Nachthemd gekleidet, das er bereits bei unsrer ersten Begegnung trug. Elim schnarchte.

Das war‘s auch schon. Mehr gab es hier nicht. Da war weder ein Wächter, noch eine weitere Tür. Und da allein wir den Schlüssel zu dieser Kammer hatten, sollte uns eigentlich auch niemand hierher folgen können. Dennoch achteten wir darauf, uns möglichst leise zu bewegen, während wir uns Elims Zellentor nährten. Keiner von uns hatte übermäßige Lust, den anderen Gefangenen zu wecken. Hinter Gittern oder nicht: Der Kerl sah nach Ärger aus. Oh, natürlich maß ich mir kein endgültiges Urteil an. Schließlich mochte das ein gar freundlicher Geselle in rauer Schale sein, und ich war durchaus bereit, auch ihn zu befreien. Aber erst einmal wollte ich mit Elim sprechen. Vielleicht konnte er uns ja etwas über seinen Mitbewohner verraten.

Es dauerte eine Weile das schwere, robuste Schloss zu knacken, aber schließlich musste es sich doch meinem Talent mit dem Dietrich geschlagen geben. Wir schlüpften in die Zelle und ich klopfte dem Zimmermann erst leicht, dann etwas fester auf die Schulter. Der Mann hatte einen robusten Schlaf. Ich wollte schon zu drastischeren, und möglicherweise lauteren, Mitteln greifen, als mich Mada zurück hielt. Aus einem Beutel holte sie eine Hand voll blauem Pulver, das sie Elim ins Gesicht blies. Zuckend öffneten sich seine Augenlider.

Als er die junge Hellseherin vor sich sah, grinste er breit. „Hmm, ein schöner Traum!“ Mada schenkte ihm ihr bezaubernstes Lächeln. „Tut mir wirklich leid, mein Lieber, aber das ist leider die Wirklichkeit.“ Ächzend setzte sich der Zimmermann auf. Noch immer wie verzaubert strich er über ihre Wange. „Kein Grund sich zu Entschuldigen, wenn die Wirklichkeit so aussieht.“ Mada wandte sich mir zu und zog lächelnd eine Augenbraue hoch. „Hm, ein Charmeur. Also den mag ich!“

Ich ging nicht weiter darauf ein, sondern trat an ihr vorbei, um selbst ein Wort mit dem charmanten Zimmermann zu wechseln. „Hallo, ich bin Ciro. Wir sind uns schon mal begegnet. Erinnert ihr euch?“ Seine Augen weiteten sich. „Ja… du bist in mein Haus eingebrochen. Ähm, eigentlich würde ich lieber wieder mit deiner Begleiterin sprechen.“ Ich ließ ihm die Unhöflichkeit ausnahmsweise durchgehen. „Später. Im Moment möchte ich gerne wissen, was ihr mir über euren Mitgefangenen sagen könnt.“ Verwirrung zeichnete sich auf den Gesichtszügen des Zimmermanns ab. „Welchen Mitgefangenen?“ Etwas ging mir durch den Kopf. Es waren die Worte, die Ayla zu uns gesagt hatte: „Weil jeder dort unten ein Gefangener ist.“ Selbst die Wächter, ergänzte ich im Geiste, doch da war es bereits zu spät.

Knallend fiel das Gittertor zu und wurde im selben Moment abgeschlossen. Draußen vor unsrer Zelle stand der bleichgesichtige Kerl von nebenan. Sein Lumpengewand hatte er abgelegt. Darunter trug er eine fleckige Stoffhose, ein altes Leinenhemd und eine abgetragene Lederweste. Außerdem zielte er mit einer Armbrust auf uns. Ich schalt mich für meiner eigenen Dummheit. Warum nur waren wir alle in die Zelle gestiegen? Was für ein dämlicher Anfängerfehler.

„Her mit dem Schlüssel!“, fuhr er uns an. Ich war überrascht. Kein oberflächliches Geplauder. Der Mann kam gleich zum Punkt. „Ich weiß, dass ihr den Schlüssel haben müsst, sonst wärt ihr nicht hier. Und wenn ihr ihn habt, dann kommt auch niemand von der Gilde um mich abzulösen! Aber ich werde hier ganz sicher nicht mit euch verrotten, also her damit!“ Mein Blick zuckte kurz zum Schloss, was unsrem Aufseher nicht entging. „Oh sicher könnt ihr versuchen, das Schloss noch einmal zu öffnen, aber glaubt mir: Ich bin schneller.“ Er klopfte gegen seine Armbrust, um sein Argument zu bekräftigen.

Etwas in den Augen des Geweihten veränderte sich. Dann schien sich die ganze Welt zu verändern, als wäre plötzlich alles allein auf ihn ausgerichtet. Auf unbenennbare Weise wirkte Chadim geradezu übermenschlich. Ich wäre vollkommen gebannt gewesen, wenn ich das ganze nicht schon einmal erlebt hätte. Es war die gleiche göttliche Aura, die der Geweihte auch gegen die Bande der Finsterwölfe eingesetzt hatte. „Du wirst uns hier jetzt herauslassen!“, sagte er in einem ruhigen, bestimmten Ton, der mehr war als ein Befehl. Es war eine Tatsache. Und für einen Moment wollte unser Wächter auch tatsächlich gehorchen. Doch dann schüttelte er den Bann regelrecht ab und schlagartig war die Welt wieder normal. „Nein! Euch gehen zu lassen wäre mein Tod. Ich käme hier nie wieder raus. Gebt den Schlüssel heraus, oder ich schieße!“

Ein aussichtsloser Augenblick. Wir saßen in der Falle. Nun, ich schätze, Jonas hätte sich durch die Stäbe quetschen können, doch bezweifelte ich aufrichtig, dass er etwas gegen den großen Kerl hätte ausrichten können. Entweder starben wir also durch Bolzenbeschuss, oder wir würden in dieser Zelle verenden, während unser Aufseher durch die Tür des Zimmermanns… Die Tür des Zimmermanns!

Ich hatte eine Idee, die ich nur als genial bezeichnen kann! Aber um sie umzusetzen, musste ich zunächst Chadim überzeugen. Ich legte eine Hand auf den Rücken des Geweihten. Mit der Spitze meines Zeigefingers zeichnete ich dort ein paar Linien und hoffte inständig, dass ein Diener des Fuchsgottes ihre Bedeutung verstehen würde. Er verstand.

„Also schön“, sagte Chadim und holte den kleinen Silberschlüssel hervor. „Du hast gewonnen.“ Er streckte die Hand durch das Gitter und der Wächter riss ihm den Schlüssel aus den Fingern. „Hah!“, rief er triumphierend. Dann drehte er sich um und verschwand durch die Tür in den Kellergang, durch den wir herein gekommen waren.

„Was sollte das?“, fauchte mich Chadim an. Ich hatte mit dem Finger die füchsischen Zinken für „tu es“ und „vertrau mir“ auf seinen Rücken gezeichnet. Für Erklärungen blieb allerdings keine Zeit. Ich wandte mich direkt an den Zimmermann, packte ihn an den Schultern und sah ihm fest in die Augen. „Du musst jetzt sofort etwas tun, das ziemlich verrückt erscheint, aber tu‘s einfach, verstanden?“ Er tat es.

Nur wenige Sekunden später kam unser Aufseher wutschnaubend zurück in den Kerkerraum gestürmt. „Das ist nicht der Schlüssel! Gebt mir sofort den echten!“ Unbeeindruckt trat Chadim an das Gitter heran. „Ich schwöre bei Phex, das ist der echte Schlüssel.“ Der grobschlächtige Kerl hob erneut die Armbrust. „Ach ja? Und warum funktioniert er dann nicht?“ Der Geweihte ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Er wird funktionieren, wenn ich ihn benutze. Wir gehen hier gemeinsam raus, oder keiner von uns.“ Unser Aufseher zögerte. „Wenn ich ihn dir überlasse, lasst ihr mich hier zurück.“ Chadims Stimme nahm einen besänftigenden Klang an. „Und wenn ich dir mein Wort gebe? Mein Wort als Diener des Phex? Gibst du ihn mir dann?“

Eine angespannte Stille breitete sich aus und dröhnte regelrecht in meinen Ohren. Dann endlich nickte der Wächter. „Gebt mir euer Wort!“ Und Chadim sprach: „Beim Fuchsgesichtigen und bei allen Zwölfen schwöre ich, dass wir dich hier herausholen und dir nichts zuleide tun werden, solange du uns nicht angreifst.“ Auf seiner Brust zeichnete er ein Dreieck, dass den Fuchsgott repräsentierte. Und endlich senkte der Finsterwolf seine Armbrust, schloss das Gittertor auf und übergab Chadim den Schlüssel der verborgenen Pfade.

Natürlich funktionierte der Schlüssel, als der Geweihte ihn in die Tür steckte. Könnt ihr euch denken warum? Wie gesagt war das eine ziemlich geniale Idee von mir. Und der bleichgesichtige Finsterwolf weiß selbst in diesem Moment noch nicht, warum der Schlüssel in seiner Hand versagte. Aber euch will ich‘s verraten: Der Schlüssel versagte bei ihm, weil es seine eigene Tür war. Ich hatte den Zimmermann überredet, seine Haustür an seinen Aufseher zu verschenken. Eine reine Formalität, die uns allen den Arsch gerettet hat! Oh, bitte verzeiht meine Ausdrucksweise.

Der Zauber des Schlüssels brachte uns in eine abgelegene Seitenstraße Perricums. Als wir durch die Tür schritten, ließ ich unauffällig ein Messer in den Türspalt fallen, so dass sie sich nicht ganz schloss, als Chadim sie hinter sich zuzog. Der finster dreinblickende Finsterwolf spielte offenbar kurz mit der Idee, ob er es wagen sollte, sich mit uns allen anzulegen und den Schlüssel zurück zu erbeuten. Aber wir alle schienen seinen Gedanken zeitgleich zu erraten und unser Blick jagte ihn in die Flucht.

Und somit waren wir nur noch zu fünft: Eine Hellseherin, ein Kater, ein Geweihter, ein Dieb und ein Zimmermann. „Also… ich geh dann mal ja?“, stammelte Elim und trat leicht unsicher von einem Bein auf das andere. Mada lächelte verschmitzt und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Bis bald!“, säuselte sie keck und gab ihm einen leichten Stups. Das riss ihn aus der Benommenheit und er straffte die Schultern. „Und du halt dich in Zukunft von meinem Geschäft fern!“ Er deutete auf mich. „Und was ist wenn ich mal einen Zimmermann brauche?“, fragte ich beleidigt, während er schon davon schritt. „Dann such dir einen anderen!“, rief er, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Nun blieb nur noch eine Sache zu klären. Also wandte ich mich an den Geweihten. „Du hast den Attentäter beauftragt.“ Chadims lächeln erlosch. Zu seiner Verteidigung muss ich sagen, dass er keinen Augenblick zögerte, die Wahrheit zu gestehen. „Ja, das hab ich. Als mir klar wurde, dass die Gilde fremde Türen stiehlt, musste ich dafür sorgen, dass sie nichts damit anfangen kann. Und wenn der Besitzer stirbt...“ Diesmal war ich es, der ihm mit der flachen Hand einen Schlag ins Gesicht versetzte. Ein äußerst befriedigender Moment. „Dafür wirst du dich rechtfertigen müssen!“, fuhr ich ihn an. Er rieb sich die Wange und sah mich an. „Vor dir?“ Ich schüttelte den Kopf und öffnete die Tür hinter ihm. Er drehte sich um und erkannte verblüfft, dass noch immer die Kammer der Verlorenen hinter ihm lag. Blitzschnell riss ich ihm den Schlüssel aus der Hand und versetzte ihm einen harten Stoß, der ihn in den Keller zurücktaumeln ließ. Dann schloss ich die Tür, indem ich mein Messer mit einem schnellen Fußtritt zur Seite fegte.

Und weg war er. Und ich hielt den Schlüssel in meiner Hand. „Damit könntest du der größte Dieb aller Zeiten werden“, raunte Mada in bedeutungsschwangerem Ton. Ich sah sie an und grinste. „Ich werde ganz bestimmt der größte Dieb aller Zeiten.“ Dann hielt ich den Schlüssel hoch. „Aber ganz sicher nicht so.“ Mada nickte erleichtert. „Und was wirst du dann damit machen?“ Ich kramte den Vertrag aus der Tasche, den ich mit dem Geweihten geschlossen hatte. „Da fällt mir schon was ein.“


Epilog: ...da lebte ein Dieb

Ich weiß schon, meine Zeit ist abgelaufen. Aber ich bin ja auch am Ende angelangt, nicht wahr? Der Wortlaut des Vertrags erlaubt mir heute hier vor euch zu stehen, im verborgenen Tempel, euer Hochwürden persönlich den Schlüssel zu übergeben und dabei eure Hand zu schütteln. Den Versuch, euch bei der Gelegenheit den Siegelring vom Finger zu stehlen, könnt ihr mir schwerlich verdenken. Also schön, ihr habt mich erwischt. Dieses Mal jedenfalls.

Erwähnte ich bereits, wie kleinlich das ist, mich deswegen gleich der Stadtwache übergeben zu wollen? Nun gut, meine Freiheit habe ich mir nun hoffentlich zur Genüge verdient, denn das war unsre Vereinbarung nicht wahr? Ich versprach euch zu zeigen, wo ihr euren vermissten Geweihten finden könnt. Ich hoffe, ihr bedenkt, was er getan hat, wenn ich euch gleich die Tür zur Kammer der Verlorenen aufschließe. Als Gegenleistung, so habt ihr es zugesagt, schenkt ihr mir die Freiheit, sowie eine Stunde eurer Zeit.

Also, ich weiß ja nicht, wie‘s euch geht, aber ich hab unsre Zeit sehr genossen!

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