previous
7. Durch die Spiegel

„Schöne Geschichte“, tönte es aus dem Haufen aus Decken und Schlafsäcken heraus.

„Du und dein magisches Land“, seufzte eine andere Stimme.

Der Geschichtenerzähler ignorierte es und blickte Anders unverwandt an. Ka hatte von ihrem Vater ähnliche Geschichten gehört, von mächtigen Magiern, die sich zu Königen ausgerufen haben, und von noch mächtigeren Feen und den drei Hexenschwestern. „Wie kommen wir da hin?“, fragte sie schließlich.

Anders dagegen schien völlig aus der Bahn geworfen. Sein Mund stand offen, während er den Geschichtenerzähler anstarrte. Dieser drehte seinen Kopf in Kas Richtung, ohne den Blick von Anders zu nehmen. „Folgt mir.“

Er erhob sich, und der kleine struppige Hund sprang ebenfalls auf und hüpfte schwanzwedelnd um den Geschichtenerzähler herum. Der war ziemlich groß, wie Ka nun, da er aufgestanden war, sehen konnte. Als er hinaus in den Regen trat, schob sie Anders an, der immer noch wie vom Donner gerührt war. Dann aber folgten sie dem Geschichtenerzähler in die Nacht und ignorierten die weiteren Zurufe der übrigen Versammlung.

Der Geschichtenerzähler ging schnellen Schrittes voran, und die Kinder mussten sich beeilen, um nicht hinter ihm zurückzufallen. Sie bogen in die Gassen hinter dem Einkaufszentrum ein. Die Hallen und Lagerhäuser hier waren um diese Uhrzeit und am Wochenende leer und dunkel.

Anders fühlte sich nicht wohl. Ganz und gar nicht wohl. Ihm war kalt, er war durchnässt, und die Geschichte über den Sumpfkönig und die Nebelfee hallte in seinem Kopf wider. Außerdem kam ihm dieser Mann bekannt vor, und zwar auf eine ungute Art. In seiner Erinnerung war der Mann deutlich jünger, trug keinen Bart und hatte einen gehetzten Blick. Auch andere Erinnerungen tauchten auf: ein weites Moor, still und kalt, und tanzende Lichter über ruhigem Wasser. Die Stimme einer Frau. Ein Lied, traurig aber wunderschön. Nebel, der nach Herbstlaub roch und sich wie Heimat anfühlte.

Kas entrüstete Stimme riss ihn aus seinen verwirrten Gedanken. „Was? Das soll ja wohl ein Witz sein!“

Sie standen in einer Gasse, in der sich der Müll neben Tonnen stapelte. Nur eine einzige Straßenlaterne in der gesamten Reihe funktionierte noch, und die schien direkt auf einen Pappkarton. Es war einer von diesen großen, in denen Kühlschränke verschickt wurden. Vor der Öffnung hing ein alter Teppich mit Mottenlöchern, und auf die Seiten hatte jemand mit schmierigem Edding Fenster mit Blumenkästen gemalt.

„Bitte!“, sagte der Geschichtenerzähler und verneigte sich. „Mi casa es su casa. Tretet ein! Drinnen können wir uns ein wenig aufwärmen.“ Er duckte sich unter dem Teppich hindurch und verschwand im Inneren des Kartons. Der Hund lief ihm bellend hinterher. Dann war es still in der Gasse.

Ka ging einmal verwundert um den Karton herum. Für einen Mann und einen Hund war er definitiv zu klein. Nachdem sie ihre Runde gedreht hatte, trat sie neben Anders. Sie zuckte mit den Schultern, grinste ihn schief an und verschwand dann ebenfalls im Karton. Anders gefiel das alles immer weniger, und er hätte gern mehr Zeit gehabt, um die Situation gründlich zu durchdenken. Aber nun stand er allein im Regen, in einer dunklen Gasse mitten in der Stadt, und das gefiel ihm noch weniger. Also gab er sich einen Ruck und trat ebenfalls ein.

Und lief direkt in Ka hinein, die mit offenem Mund stehen geblieben war. Bevor Anders sich umsehen konnte, fühlte er eine behagliche Wärme, roch Tee und süßes Gebäck und hörte ein Feuer knistern. „Mann…“, hauchte Ka. Und Anders, der Ka etwas beiseiteschob, konnte nun ebenfalls kaum glauben, was er sah.

Sie standen in einem gemütlichen, mit flauschigen Teppichen ausgelegten Wohnzimmer. An den Wänden hingen allerhand Bilder – Fotografien, richtige Gemälde und sogar ein paar Wandteppiche. Das Zimmer war jedoch dermaßen zugestellt, dass die Kinder nicht richtig erkennen konnten, was die Bilder zeigten. Überall standen Tische mit Dekokram und Nippes. Es gab auch allerhand verschiedene Sitzgelegenheiten sowie Regale mit allem möglichen Zeugs, von Spieluhren über Bücher bis hin zu Lampen. Es sah aus wie bei einem äußerst unordentlichen Antiquitätenhändler, fand Anders. In der Ecke vor einem großen Bücherregal stand ein gemütlicher Lesestuhl, und neben diesem prasselte in einem Kachelofen ein kleines Feuer.

Der Hund kläffte noch ein paar Mal fröhlich, dann sprang er auf ein Kissen, das auf dem Boden vor dem Kachelofen lag. Der Geschichtenerzähler stand mitten im Raum und sah aus, als würde er jeden Moment loslachen. „Kinder“, sagte er dann, „ihr seid bestimmt ganz durchgefroren und müde von eurem Spaziergang durch den Regen. Macht es euch gemütlich.“

Er verschwand hinter einer Wand aus Bücherstapeln, und kurz darauf ertönte aus etwa dieser Richtung das Klirren von Geschirr. Anders und Ka zogen ihren nassen Sachen aus, hingen sie über einen von etwa einem Dutzend Kleiderständern, die hier verstreut standen, und setzten sich auf eine gemütliche Couch. Sie war ein bisschen staubig, aber beide sanken förmlich in ihre weichen Polster ein. Kurz darauf kam der Geschichtenerzähler mit einem Tablett zurück, auf dem drei dampfende Tassen und eine Schüssel mit Keksen standen. „Ich nehme an, ihr mögt Kakao?“

Ka griff sofort zu und aß mit einem Happs zwei Kekse auf einmal, während Anders sich erst einmal die Hände an seiner Kakaotasse wärmte. „Wie heißt du eigentlich richtig?“, fragte Ka den Geschichtenerzähler mit vollem Mund. Dieser lächelte und antwortete: „Mein Name ist Fabil. Aber der Name des Geschichtenerzählers ist nicht wichtig, liebe Ka, sondern nur die Geschichte, die er zu erzählen hat.“

„Ich kenne dich“, sagte Anders plötzlich leise. Kas Schmatzen verstummte, und sie starrte ihn an.

„Ja.“ Das Lächeln verschwand aus Fabils Gesicht. „Ich habe dich damals hergebracht.“

„Warum?“

„Du warst in Gefahr, Anders. Deine Mutter musste dich in Sicherheit wissen, also habe ich dich hergebracht und dir eine andere Familie gesucht, damit sie sich um dich kümmert. Aber jetzt musst du zurück.“

„Ich weiß doch gar nicht, wie!“, protestierte Anders, aber Fabil antwortete in seiner besten Erzählerstimme: „Jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Du wirst ihn beschreiten und zu deiner Bestimmung finden. Ich zeige dir, wo der Weg anfängt. Den Rest musst du allein schaffen.“

„Und wenn ich nicht will?“, fragte Anders zögerlich.

„Dann geh‘ zurück und leg‘ dich wieder in das Bett, in dem du vorhin noch gelegen und dein Buch über Abenteuer und Helden gelesen hast. Morgen früh nach dem Aufstehen wirst du alles für einen schlechten Traum halten. Deine Zieheltern werden dich, zusammen mit ein paar Kisten und Koffern, ins Auto setzen und mit dir in eine neue Stadt ziehen. Vielleicht wird deine Mutter dich in der nächsten Stadt nicht mehr finden, um dir Nachrichten zukommen zu lassen. Dann kannst du dein Leben in Ruhe und Frieden leben. Es ist deine Entscheidung.“

Aber Anders wusste, dass er niemals in Ruhe und Frieden leben würde. Das hatte er noch nie. Er hatte schon immer eine Sehnsucht nach etwas … anderem gespürt, ohne genau zu wissen, was das gewesen war. Er gehörte einfach nicht hierher. Wenn Fabil die Wahrheit sagte, würde das einiges erklären. Warum er so anders war, warum er keine Freunde fand (außer Ka vielleicht) und warum er sich immer fühlte wie im falschen Film. Wie ein Schauspieler in einem Zorro-Kostüm, der aus Versehen an das Filmset von Raumschiff Enterprise geraten war. Vielleicht war es wirklich Zeit, nach Hause zu kehren, auch wenn er sich an dieses Zuhause gar nicht erinnerte? Als könnte sie seine Gedanken lesen, lächelte Ka ihn an. Sie hatte keine Angst, und das machte ihn ein wenig mutiger. „Okay“, sagte er, „wie kommen wir in das Land hinter den Spiegeln?“

Nun grinste Fabil wieder breit. „Durch einen Spiegel. Aber nun müsst ihr euch erst einmal ausruhen und ein wenig schlafen. Morgen geht eure Reise los, und dann reden wir über die Details.“

Anders konnte sich nicht vorstellen, jetzt zu schlafen, so aufgeregt war er. Doch als Fabil Decken holte und Ka und Anders sich auf die gemütliche Couch kuschelten, war er plötzlich sehr müde. Er murmelte noch vor sich hin.

„Was brummelst du?“, fragte Fabil lächelnd.

„Es war ein Buch über das alte Ägypten, keine Abenteuer und Heldengesch...“ Das Letzte, was Anders vor dem Einschlafen mitbekam, war das Läuten einer Uhr. Es war Mitternacht, und der erste Dezember hatte begonnen.

next
8. Nicht nur anders, sondern außergewöhnlich

Anders wachte auf, weil ihm ein Hund durchs Gesicht schlabberte. Er erschreckte sich so sehr, dass er sich in der Decke verhedderte und der Länge nach von der Couch fiel, wobei er einige Papierstapel umstieß. Der Hund bellte fröhlich und verschwand schnell zwischen einer Standuhr und einem alten Sessel. „Iiih!“, machte Anders und wischte sich mit dem Pullover die Sabber aus dem Gesicht. Plötzlich tauchte der Hund von der anderen Seite der Couch auf, sprang schwanzwedelnd an Anders hoch, und schleckte seine Hände ab. „Geh weg“, brummelte Anders und versuchte, den Hund fortzuschieben.

„Guten Morgen, Sonnenschein!“ Ka stand grinsend neben ihm und hatte einen Hundekeks in der Hand, mit dem sie nun den Hund von Anders fortlockte. Mit dem Keks im Maul hüpfte der Hund in einen alten Kinderwagen aus dem vorigen Jahrhundert und machte es sich lautstark kauend dort gemütlich.

Anders brummelte erneut und rappelte sich auf. Dann strich er sich die Klamotten glatt und sah Ka aus zusammengekniffenen Augen an, einfach, um sie an seiner schlechten Laune teilhaben zu lassen. Ka aber lachte nur, drehte sich um und umrundete einen großen Haufen Krimskrams. Dahinter, stellte Anders fest, nachdem er ihr gefolgt war, hatte Fabil auf einem kleinen Tischchen ein reichhaltiges Frühstück angerichtet. Anders war sich ziemlich sicher, dass der Tisch gestern unter allerhand altem Zeugs begraben gewesen war. Nun jedoch stand ein Korb mit Croissants, Brötchen und Schwarzbrot darauf, und dazu viele verschiedene Sorten von Marmelade, Wurst und Käse. Zwei Becher mit Kakao warteten ebenfalls auf sie. Fabil, der Geschichtenerzähler, saß auf einem wackeligen, alten Stuhl und nippte an einer Tasse Tee. Er trug einen komischen Morgenmantel mit vielen Trotteln und eine seltsame Kappe auf dem Kopf. Unter dem Morgenmantel hatte er eine Art Anzug an, die Anders wie eine Requisite aus einem alten Film vorkam.

Ka schien bester Laune zu sein und ließ Anders keinerlei Zeit, sich in seiner schlechten Laune zu suhlen. Sowie er sich zu Ka auf die Couch gesetzt hatte, fing sie aufgeregt an zu plappern.

„Anders, Fabil ist derjenige, der meinen Vater immer zu den Spiegeln bringt. Seine Aufgabe ist es auch, Spiegel zu finden, durch die man gehen kann. Aber weil der Weg durch die Spiegel so hammergefährlich ist, kann mein Vater auch nicht so oft zurückkommen!“ Anders war immer noch nicht gut drauf, aber es gefiel ihm, Ka so glücklich zu sehen. Daher unterdrückte er auch den Impuls, ihr zu sagen, dass ihr Vater dann doch einfach hierbleiben könne.

Stattdessen nahm Anders sich gemächlich ein Brötchen, schnitt es auf und schmierte sich erst Butter, dann Marmelade darauf. In der ganzen Zeit sagte er nichts, und Ka zappelte richtig vor Ungeduld und warf ihm vernichtende Blicke zu. Auch Fabil sah ihm mit hochgezogenen Augenbrauen zu. Nachdem Anders herzhaft in sein Marmeladenbrötchen gebissen hatte, befand er, dass er Ka genug geärgert hatte. Mit vollem Mund fragte er endlich: „Und warum ist der Weg so gefährlich?“

Ka rollte mit den Augen und machte: „Oaaahh!“. Fabil aber sprach mit ernster Stimme. „Erstens befinden sich einige der begehbaren Spiegel an gefährlichen Orten. Zweitens befindet sich der Weg zwischen den Spiegeln fernab aller bekannten Welten. Dort existiert weder Raum noch Zeit, und man darf nicht zu lange verweilen.“

Anders hing noch bei den Worten „gefährlich“ und „Raum und Zeit“, die ihm ganz und gar nicht behagten, aber Ka rutschte ungeduldig auf den Polstern hin und her. Tatsächlich wackelte es sogar so sehr, dass Anders kaum in sein Brötchen beißen konnte.

„Dann sind alle Geschichten wahr, die mein Vater mir erzählt hat?“ Kas Augen leuchteten richtig vor Hoffnung und Abenteuerlust. „Auch die über die Blumeninseln? Und die Meerwesen? Und die Kobolde?“ Sie quietschte beinahe.

Fabil lächelte. „Ich weiß nicht, was dein Vater dir erzählt hat, Ka. Aber ja, im Land hinter den Spiegeln gibt es viele Wunder und auch Magie. In den Wäldern dort findet man Trolle und Waldgeister, die jeden, der vom Weg abkommt, in ihre unterirdischen Hallen verschleppen.“

Anders fand nicht, dass das besonders verlockend klang.

„Es gibt auch Landstriche, in denen Träume wahr werden. Dort traut sich niemand, einzuschlafen, denn es kann passieren, dass die eigenen Alpträume dich auch nach dem Aufwachen jagen. Es gibt verlassene Städte, in denen alte Wunder überdauern, und verborgene Pfade voller Geheimnisse. Im Norden sind die Gebirge so hoch, dass ihre schneebedeckten Gipfel bis in die Wolken ragen. In der Kälte dort können nur Steinriesen leben. Und natürlich der mächtige Zauberer des Nordens, der seinen Turm im tiefsten und kältesten aller Täler errichtet hat, damit er ungestört seine Magie wirken kann. Manchmal erreichen seine Eisstürme und Schneewehen sogar die tiefsten Südlande, wo der Dschungel die Städte erdrückt und der Ruhelose Ozean beginnt.“

Je mehr er über dieses Land hinter den Spiegeln erfuhr, umso weniger verspürte Anders das Bedürfnis, dorthin zu reisen. Ka allerdings war völlig hingerissen und hing an den Lippen des Geschichtenerzählers.

„Der Süden wird regiert vom Dschungelkönig, dem Zauberer des Südens. Seine Piraten und Seeleute durchstreifen auf der Suche nach Schätzen die unzähligen Inseln der Blumenfee. Dort ist immer Frühling, aber die Laune der Fee ist so unstet wie das Wetter im April. In einem Augenblick wärmt die Sonne dir den Rücken, im anderen peitschen Regen und Sturm über die See, türmen die Wellen auf und versenken die Schiffe zu Dutzenden.“

Ka gab ein seltsames Grunzen von sich. Ein Laut der Beeindruckung und Anerkennung, erkannte Anders. Seine eigene Reiselust schwand jedoch mit jedem weiteren Satz des Geschichtenerzählers ein wenig mehr.

„Manchmal schickt die Blumenfee die Seeleute aus, um mit den Meerwesen zu reden. Aber nur die mutigsten folgen diesem Ruf, denn die Kreaturen, die im Ruhelosen Ozean hausen, sind so groß, dass sie ein ganzes Schiff mit einem Biss verschlingen können.“

Anders schluckte. Es wurde immer schlimmer.

„Die Seeleute im Land hinter den Spiegeln sind jedoch ehrenwerte Händler, und ihr Ehrenwort wiegt schwerer als das der Könige. Die Schätze, die sie auf ihren gefährlichen Seereisen dem Meer entlocken, schicken sie mit den zahlreichen Karawanen auf den Weg nach Westen, wo die großen befestigten Städte des Sonnenkönigs sich aus dem sengenden Wüstensand erheben. Dort ist es so heiß, dass die Schuhsohlen beim Laufen schmelzen und am Boden festkleben. Aber die Städte wurden um die wenigen Oasen herum errichtet, sodass man in ihrer Mitte die wunderschönsten Wasserfälle und tropischen Pflanzen findet. Der Sonnenkönig, der mächtige Zauberer des Westens, regiert dort und kontrolliert mit viel Geschick und Strenge die Handelsrouten der Wüste.“

Trolle und Waldgeister, lebende Alpträume, Steinriesen, Eisstürme und Schneewehen, erdrückende Dschungel, schmelzende Schuhsohlen, Seemonster, fiese Zauberer und launische Feen. Anders überlegte kurz, ob er noch etwas vergessen hatte. Nein, das war es so ziemlich. Er würde nicht dorthin gehen, auf gar keinen Fall! Anders hatte jedoch das Gefühl, dass Fabil ihm noch nicht alles gesagt hatte. Dass all das, was der Geschichtenerzähler bislang erzählt hatte, bloß die Einleitung gewesen war und das dicke Ende noch kommen würde. Er wusste nicht genau, warum, aber anstatt seinen Entschluss zu verkünden, hörte er einfach weiter zu. Und als hätte Fabil seine Gedanken gelesen, nahm er seinen Faden wie folgt wieder auf:

„Doch was uns in dieser Runde interessieren soll, ist das Land im Osten. Hier reicht das Meer weit ins Landesinnere hinein und vermischt sich mit dem Wasser der zahlreichen kleinen Flüsse, die aus dem Grat der Welt herabfließen. Das Ergebnis ist eine weitläufige Sumpflandschaft, in der Mangroven wachsen und Nebelbänke wallen. Hier lebt der Sumpfkönig, der Zauberer des Ostens. Dein Vater, Anders.

Anders war sprachlos, und Ka machte ein Gesicht, als hätte sie gerade entdeckt, dass der Mond aus Käse wäre.

„Dein Vater ist schuld an dem Dämmerlicht, welches seit zehn Jahren im Land hinter den Spiegeln herrscht. Zusammen mit der Nebelfee hat er einen mächtigen Zauber geschmiedet, um die Herrin der Dämmerung ganz für sich allein haben zu können. Weil ihm die zwanzig Minuten, während derer sie jeden Tag die Welt beschritt, nicht ausreichten. Und seit sie irgendwo dort in den Marschen des Sumpflandes weggesperrt ist, können die Herrinnen des Tages und der Nacht nicht mehr erscheinen, denn die Herrin der Dämmerung ist nicht da, um ihnen den Weg zu bereiten.“

Fabil zögerte einen kaum spürbaren Augenblick, doch es war Anders nicht entgangen. „Seit zehn Jahren hat niemand mehr die Herrin der Dämmerung gesehen. Ein undurchdringlicher Nebel herrscht über dem Sumpf, und niemand, der seitdem dort hineingegangen ist, hat es wieder heraus geschafft. Und genau dorthin musst du gehen, Anders.“

„Cool“, hauchte Ka beeindruckt.

„Äh“, machte Anders. „Besonders erfolgversprechend klingt das jetzt aber nicht. Warum sollte ich denn so etwas Gefährliches tun?“

Fabil haute mit der Faust so sehr auf den Tisch, dass die Teller hüpften und die Tassen klirrten. Anders und Ka zuckten zusammen. „Weil es deine Aufgabe ist! Weil nur du das tun kannst, Anders! Seit zehn Jahren wartet das Land hinter den Spiegeln auf den einzigen Jungen, der die Herrin der Dämmerung befreien kann!“

„Aber warum?“, fragte Anders verzweifelt.

„Weil sie deine Mutter ist, Anders. In dir fließt das Blut sowohl eines der mächtigsten Zauberer des Landes als auch einer der drei Herrinnen der Zeit. Du besitzt Fähigkeiten, die sonst niemand hat.“

Anders wurde schwindelig, und sein Blickfeld bekam schwarze Ränder. Fabil schien es bemerkt zu haben, denn er sprang auf und eilte herüber, um ihn flach auf die Couch zu legen. Ka legte seine Füße auf ihre Oberschenkel. „Irgendwo in dir schlummern diese Fähigkeiten, Anders“, sagte Fabil.

Und dann so leise, dass Anders es gerade noch hören konnte: „Hoffentlich.“ Dann verlor er das Bewusstsein.



next
9. Magische Orte

Als Anders wieder zu sich kam, wusste er zunächst gar nicht, wo er sich befand. Er hörte wütende Stimmen und beschloss erst einmal, liegen zu bleiben, bis der Schwindel sich gelegt hatte. Dann fiel es ihm wieder ein: sein Vater ein Magier, seine Mutter eine Art Göttin, und beide lebten in einem wundersamen „Land hinter den Spiegeln“. Und er selbst sollte ebenfalls Superkräfte haben. Oh Mann, gerade hatte er das Bedürfnis, wieder zu seinen Eltern zurück zu rennen und sich tausendfach dafür zu entschuldigen, weggelaufen zu sein. Sie würden sicherlich mit ihm schimpfen, und vielleicht würde er auch Hausarrest bekommen. Aber sie würden trotzdem froh sein, ihn wieder zu haben, und er müsste sich nicht mehr diese ganzen seltsamen Geschichten anhören.

Ka und Fabil schienen sich zu streiten, und soweit er es beurteilen konnte, ging der Streit schon eine ganze Weile. Ka zischte gerade: „Ach, du hast doch gar keine Ahnung!“

Fabils Antwort klang nicht weniger wütend. „Ich bin ihm zehn Jahre durch alle Städte gefolgt, immer in der Hoffnung, sein magisches Potenzial würde sich entfalten und ich müsse nur schnell eingreifen. Aber nichts! Nichts hat sich getan. In zehn Jahren! Mir haben Könige gelauscht, Könige! Und hier muss ich durch die Straßen ziehen und meine Geschichten Leuten erzählen, die zwar massig Zeit aber keinerlei Sinn für Magie haben. Ich fürchte, dieses trostlose Leben auf dieser Seite der Spiegel hat bei Anders all das, was sich hätte entfalten sollen, im Keim erstickt.“

Nun war Anders hellwach und spitzte die Ohren. Ka schien besänftigt zu sein, denn ihre Stimme klang nun viel ruhiger. „Schon möglich. Allein das ganze langweilige Zeug, das wir in der Schule lernen müssen. Da wird man ja ganz blöd im Kopf.“

Anders rappelte sich auf. „Der Sinn von Schule ist genau das Gegenteil von Blödwerden, Ka.“ Die beiden erschraken, als Anders‘ Stimme ertönte. Sie schienen sich ertappt zu fühlen und sahen sogar ein wenig betreten drein. Das hatten sie verdient, fand Anders. Über ihn zu reden, während er schlief!

Ka hatte sich aber schnell wieder gefangen und rollte mit den Augen. „Das erzählt er mir ständig“, sagte sie an Fabil gewandt.

Auch Fabil grinste nun wieder. „Ka hier ist halt eher ein Blumen- als ein Schulmädchen. Wenn du jemals auf die Blumeninseln kommst, Anders, wirst du verstehen, was ich meine. Die haben es da alle nicht so mit Ordnung und Struktur.“ Das schien furchtbar witzig zu sein, denn Fabil lachte herzlich darüber. Die beiden Kinder dagegen sahen sich stirnrunzelnd an. Ka schien nicht sicher zu sein, ob das nun ein Kompliment oder eine Beleidigung war, also guckte sie Fabil sicherheitshalber wütend an.

Anders‘ Gedanken drehten sich jedoch um eine ganze andere Frage: war er vielleicht doch nichts Besonderes? Er war zwar anders als die anderen Jungs in seiner Schule, aber es gab bestimmt überall Einzelgänger und Sonderlinge wie ihn. So richtig besonders machte ihn das also nicht. Anders ja, aber besonders? Die Vorstellung, wieder in sein altes, immer gleich ablaufendes Leben zurück zu müssen, erfüllte ihn plötzlich mit Traurigkeit. Er vermisste zwar seine Eltern, aber sein Leben eigentlich nicht. Das wurde ihm plötzlich bewusst. Von den Dingen in seinem Leben, die nur er selbst sich ausgesucht hatte und nicht seine Eltern oder die Lehrer oder sonst irgendein Erwachsener, war ihm nur eines wirklich wichtig, und das war hier bei ihm.

Ka riss ihn aus seinen Gedanken, als sie sagte: „Anders, warum glotzt du mich so an?“

Anders ballte die Hand zur Faust. Er würde sich selbst und allen anderen beweisen, was wirklich in ihm steckte. Es klang alles seltsam und unglaubwürdig, aber er würde verdammichnochmal nicht die einzige Chance verstreichen lassen, etwas Besonderes zu sein.

„Geht’s dir wieder gut, Anders?“, fragte Ka besorgt. Auch Fabil sah ihn zweifelnd an.

„Ja“, sagte Anders mit fester Stimme. „Ich weiß nicht, was für Kräfte ich habe, Fabil, aber ich werde es herausfinden. Ich habe beschlossen, dass ich dir glauben will. Und wenn meine Hilfe da wirklich gebraucht wird, dann sollten wir keine Zeit verschwenden!“

Ka sprang auf und jubelte, und auch Fabil strahlte plötzlich über das ganze Gesicht. Bevor sie aufbrachen und unter dem schimmligen Teppich hindurch in die Gasse traten, konnte sich Ka noch neue Schuhe aus einer der vielen Kisten in Fabils Wohnzimmer aussuchen. Wirklich neu waren sie nicht, aber sie passten immerhin und waren besser als ihre vom Regen durchweichten Hausschuhe. Ka wollte zuerst viel zu große Cowboystiefel mitnehmen, die sie cool fand, ließ sich von Anders aber zu bunten Turnschuhen überreden. Solche hatte er mal in einem Michael Jackson Musikvideo gesehen.

Es war nun Tag draußen, und die Straße präsentierte sich in ihrer ganzen Schmutzigkeit. Anders sah die geschwärzten Backsteine, das Graffiti an den Wänden, die rostigen Feuertreppen und den ganzen Müll auf der Straße. Seine Eltern würden einen Herzinfarkt bekommen, wenn sie wüssten, wo er sich herumtrieb. Er warf noch einen Blick zurück auf den unmöglichen Pappkarton, dann schüttelte er stumm den Kopf und eilte Fabil und Ka hinterher, die bereits schwungvoll die Gasse hinabmarschierten.

Sie liefen durch die halbe Stadt, und nach einer Weile erreichten sie einen großen Platz, auf dem ein paar verlassene Buden standen. Müll lag herum und einige Zeitungsfetzen und Plastiktüten wurden vom Wind umhergewirbelt. Der ganze Ort wirkte trostlos und nicht nur ein bisschen unheimlich. Obwohl es jetzt Nachmittag war, konnte Anders keine Menschenseele entdecken. Auch der ganze Lärm, den man normalerweise ständig in einer Stadt hörte, also das Hupen von Autos, das Klingeln von Fahrrädern, Sirenen und dergleichen, das alles fehlte hier völlig. Es war so still, dass Anders sogar beinahe seine schmerzenden Füße vergaß. Aber nur beinahe, denn er glaubte nicht, dass er überhaupt schon einmal so weit an einem Stück gelaufen war. Auch Ka hatte die letzte halbe Stunde nur noch komisch gehoppelt und das Gesicht verzogen. Doch auch sie war nun stehen geblieben und sah misstrauisch aus.

Anders ließ seinen Blick wieder über den Platz wandern. Er fühlte sich beobachtet. Fabil dagegen ging mit seinem kleinen Hund weiter voran, als wäre nichts. Aber irgendetwas stimmte hier nicht, das konnte er fühlen. Wie als Bestätigung richteten sich die Härchen auf seinem Arm auf. Die Kinder tauschten besorgte Blicke.

„Fabil, was ist das hier für ein Platz?“, fragte Ka. Fabil hatte offensichtlich nicht gemerkt, wie unwohl sich die beiden Kinder fühlten, denn als er nun stehenblieb und sich zu ihnen umdrehte, wirkte er überrascht.

„Das hier ist ein alter Jahrmarkt. An Orten wie diesen ist die Magie stark und der Übergang leicht. Besser wäre natürlich ein Ort, an dem die Magie aktiv ist. Aber versuch‘ mal, mitten in einer Zaubershow oder im Zirkus in einen Spiegel zu springen.“ Fabil kicherte. „Hab‘ ich mal gemacht. Die Leute dachten zum Glück, es wäre Teil der Show. Aber ihre Gesichter hättet ihr sehen sollen!“ Er schnaufte, und nachdem er wieder zu Atem gekommen war, war seine Stimme wieder ernst. „Am schwierigsten ist es jedoch, einen Spiegel zu finden, der groß genug ist. Magische Orte mit Spiegeln gibt es eigentlich genug, man muss aber einen Spiegel finden, durch den man durchpasst.“

Anders‘ Neugier war geweckt. „Wie findet man solche Orte?“

„Magische Orte sind solche Orte, an denen du verzaubert wirst. Also nicht wortwörtlich, sondern in dem Sinne, als dass du dort die Zeit und deine Sorgen vergisst. Wo du keine Angst hast, sondern glücklich bist. Manchmal jedoch, wenn diese Orte nur noch ein Echo des Glücks erzeugen, welches sie einst bereitet haben, dann tauchen dort Wächter auf, um Spiegelgänger zu fangen. Starkes Glück können sie nicht ertragen, aber sie lauern dort, wo die Freude bereits verblasst ist.“

Anders dachte darüber nach. Wirklich glücklich war er in letzter Zeit immer nur gewesen, wenn Ka bei ihm gewesen war. Er betrachtete sie aus den Augenwinkeln, während sie skeptisch den verlassenen Jahrmarkt beäugte. Dass sie der einzige Teil seines Lebens war, den er sich wirklich selbst ausgesucht hatte, das war ihm ja schon klargeworden. Aber nun fragte er sich, ob auch Menschen magische Orte sein konnten. Oder, anders gesagt, ob jeder Ort ein magischer Ort wäre, wenn man dort mit einem Menschen zusammen wäre, der einen glücklich machte.

Das Winseln des Hundes rief ihn wieder ins Hier und Jetzt zurück. Anders sah zu dem kleinen Hund, der nun zwischen den Beinen des Geschichtenerzählers kauerte und angsterfüllt zu einer Stelle zwischen zwei vernagelten Jahrmarktsbuden starrte. Beinahe in Zeitlupe trat ein riesiger Hund aus dem Schatten der Buden heraus. In seinem Maul glitzerten lange, spitze Zähne, und dicke Sabberfäden tropften neben ihm auf den Boden. Seine Augen blickten feindselig, und auch sein heiseres Knurren sprach eine deutliche Sprache: Verschwindet, oder ihr seid fällig! Seine Pfoten klickten bedrohlich auf dem Asphaltboden, als er langsam näherkam.

Anders schluckte. Wie war das nochmal mit dem Wächter gewesen?

next
10. Der Wächter

Ganz langsam schob Fabil sich vor die erstarrten Kinder. Ohne den großen Hund aus den Augen zu lassen, sagte er: „Hört zu, Kinder! Ihr geht jetzt langsam zum Spiegelkabinett. Dort sind die Spiegel groß genug. Aber keine hektischen Bewegungen, hört ihr? Ich versuche, den Hund abzulenken.“

Anders war starr vor Angst. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie diesem Monstrum entkommen könnten. Aber Ka ergriff seine Hand und zog ihn mit sich. Er musste all seinen Mut aufbringen, um nicht auf der Stelle kopflos loszurennen. Sie hatten die Hälfte des Weges bis zu den Buden zurückgelegt, als der riesige Hund plötzlich in Trab verfiel. „Lauft!“, brüllte Fabil.

Das musste er ihnen nicht zweimal sagen. Ka und Anders hetzten los. Kurz, bevor sie eine Gasse zwischen zwei Buden erreicht hatten, warf Anders ohne anzuhalten einen Blick zurück auf den Geschichtenerzähler. Er sah gerade noch, wie der riesige Monsterhund zum Sprung ansetzte, als sie auch schon in die Gasse eintauchten. Er hörte Fabils Schrei, dann das laute, wütende Bellen des Hundemonsters und über allem das schrille, panische Kläffen von Fabils Hund. Anders fiel ein, dass er gar nicht wusste, wie der kleine Hund hieß.

Hakenschlagend eilten sie zwischen vernagelten Buden hindurch und überquerten viele kleine Plätze mit alten Kettenkarussellen, Hau-den-Lukas-Automaten und anderen vergessenen Attraktionen. Hier gab es keinerlei Sachen, die man sonst auf Jahrmarkten fand: Autoscooter, Schiffsschaukeln, die riesigen Losbuden oder den Love Train, in dem die großen Jungs und Mädchen miteinander knutschten. Stattdessen schien hier alles unendlich alt zu sein.

Der Gang, dem sie nun folgten, mündete plötzlich in einen großen Platz. Wie alles andere, lag auch dieser im Dunkeln, doch Anders konnte zwei große Gebäude erkennen, die den Platz auf zwei Seiten umrahmten. Links erhob sich eine alte Geisterbahn und rechts erstreckte sich eine flache aber breite Attraktion, auf deren Dach mit großen Buchstaben geschrieben stand: „Spiegelwelt“.

Wie passend, dachte Anders.

Plötzlich ertönte hinter ihnen ein gefährliches Knurren. Ganz langsam drehten sie sich um und erblickten den riesigen Hund. Er stand nur wenige Meter hinter ihnen und sah sie zornig an. Ohne nachzudenken stürmten sie los. Der Hund gab ein gemeines Bellen von sich, und Anders musste sich nicht umsehen, um zu wissen, dass er ihnen hinterherhetzte.

Wie durch ein Wunder erreichten sie unversehrt die Rampe zum Spiegelkabinett und rannten hinein in die Finsternis.

Es gab keinen Strom auf dem Jahrmarkt, und daher funktionierten auch keine Lampen mehr. Nach wenigen Schritten verlor sich das Tageslicht von draußen, und sie rannten durch völlige Finsternis. Ihre Angst vor dem Hund war jedoch so groß, dass sie nicht langsamer wurden. Zunächst hallten ihre Schritte metallisch vom Boden wider, doch schon bald veränderte sich das Geräusch. Anders folgerte daraus, dass sie nun das eigentliche Spiegelkabinett erreicht hatten.

Ihm kam gerade der Gedanke, dass ein Irrgarten niemals gerade verläuft, als sie auch schon mit vollem Karacho gegen eine Wand knallten. Das tat weh! Hastig rappelten sie sich auf und tasteten umher, um den weiteren Weg zu finden. Dann rannten sie weiter. Es dauerte einige Sekunden, bis Anders bemerkte, dass Ka nicht mehr neben ihm lief. Sie hatte einen anderen Weg genommen!

Panik erfüllte ihn. Die Vorstellung, allein durch dieses gruselige Labyrinth zu irren, während der riesige Hund ebenfalls irgendwo hier unterwegs war, um ihn zu fressen, ängstigte ihn mehr als alles andere. Doch da tauchten plötzlich aus dem nichts zwei grabbelnde Hände auf, die ihn an der Jacke zu fassen bekamen. Anders quiekte vor Schreck, doch dann hörte er Kas Stimme in der Dunkelheit: „Ich bins!“. Anders war so erleichtert, dass er kurz in die Knie ging. Ka folgte ihm nach unten, und für eine Weile saßen sie einfach nur so da und hielten sich fest.

Dann fiel ihm der Hund wieder ein. Er wollte aufspringen, aber Ka hielt ihn am Boden fest. „Er ist uns nicht ins Spiegelkabinett gefolgt, Anders.“

„Was?“, brachte Anders heraus.

„Als ich wieder zurück bin, um dich zu suchen, habe ich ihn im Eingang stehen sehen. Es sieht fast so aus, als würde er dort auf uns warten.“

„Oder“, gab Anders zu Bedenken, „er ist gar nicht der Wächter.“

„Jetzt hör aber auf!“, sagte Ka wütend und zog ihn hoch. „Komm, gehen wir den richtigen Spiegel suchen. Halt meine Hand und lass ja nicht los!“

Die Kinder tasteten sich voran und folgten einer Abzweigung nach links. Dann einer, die nach rechts führte. So ging es immer weiter. Ihre Schritte hallten dumpf durch das Labyrinth: Tapp, tapp, tapp. Mit den Händen glitten sie an den Spiegeln entlang und suchten sich den Weg. Immer, wenn eine Wand endete, hatten sie eine weitere Abzweigung gefunden. Wenn es mehrere Möglichkeiten gab, bestimmten sie abwechseln, wo lang sie gingen.

Tapp, tapp, tapp.

Eine gefühlte Ewigkeit tasteten sie sich auf diese Weise durch die Gänge, und so langsam verlor Anders die Hoffnung, hier irgendwo einen magischen Spiegel zu finden. „Was machen wir denn jetzt?“, fragte er ängstlich. „Ich kann hier keinen Zauberspiegel entdecken!“ Die meisten Spiegel, die er ertastet hatte, hatten sich stumpf und schmutzig angefühlt. Viele waren gesplittert und die Kinder mussten aufpassen, sich nicht zu schneiden. „Vielleicht finden wir den Ausgang, dann können wir abhauen. Der Hund steht ja an der Vorderseite.“

Ka blieb wie angewurzelt stehen, sodass Anders in sie hineinlief. Anders brauchte kein Licht, um zu wissen, wie wütend Ka ihn nun ansah.

Tapp, tapp, tapp.

„Das meinst du nicht ernst!“, rief sie. „Fabil hat gerade da draußen…“

Beide hielten den Atem an.

Tapp, tapp, tapp.

Wenn sie hier stehengeblieben waren, von wem kamen dann die Schritte?

Annnnndeeeeeersss…

Anders erstarrte. „Was willst du?“, fragte er mit zitternder Stimme in die Dunkelheit hinein. Ka schüttelte ihn und machte „Pssssssst!“.

„Es ruft mich“, sagte Anders zu seiner Freundin. „Es kennt mich!“

„Was?“, quiekte Ka.

Aaaandeeeeerss… komm zuuu miiiirrrrrr…

Anders wusste plötzlich mit absoluter Gewissheit, dass das, was sich ihnen dort in der Dunkelheit näherte, nichts Gutes im Schilde führte. Dass es böse war. Sehr böse. Es war der Wächter!

Ka konnte das Ding anscheinend nicht hören, aber sie schien das, was Anders gesagt hatte, nicht im Geringsten anzuzweifeln. Sie klammerte sich an ihn, und als er langsam rückwärtsgehend vor dem Ding zurückwich, folgte sie ihm. Plötzlich stießen sie gegen eine Wand, und Ka schrie erschrocken auf. Panisch tasteten sie in alle Richtungen, aber wie es schien, waren sie in eine Sackgasse geraten!

„Du hattest Recht“, sagte Ka mit zitternder Stimme. „Das hier ist der Wächter!“

Die Schritte kamen immer näher, und wieder hörte Anders die Stimme des Dings in seinem Kopf: Aaaandeeeerrsss.. ich habe auf dich gewarrrrteeeet….

Anders wusste keinen Ausweg. Er konnte ja nicht einmal etwas sehen! Wie sollte er sie da vor einem Wesen retten, das er nur in seinem Kopf hören konnte. Es war vorbei! Sie konnten nirgendwo hin mehr flüchten. Auch Ka schien das erkannt zu haben, denn sie ergriff seine Hände und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Ihre Stimmte bebte, als sie sagte: „Ich hab‘ dich lieb, Anders!“

Plötzlich erhellte ein sanftes Leuchten den Gang. Nach und nach wurde es heller und vertrieb die Dunkelheit um sie herum. Sie konnten sich selbst sehen, verschwommen und bruchstückhaft aber vielfach von den stumpfen Spiegelwänden reflektiert. Bis in die Unendlichkeit schienen dort Kas und Anders zu stehen, an einander geklammert und zitternd. Doch als er seine Spiegelbilder betrachtete, bemerkte er etwa, das ihn in Erstaunen versetzte: bei jedem einzelnen Anders, den er dort sah, glühten die Hände!

Er löste sich von Ka und hob die Hände vor sein Gesicht. Ka trat einen Schritt zurück, wischte sich die Tränen aus den Augen und sah ihn erstaunt an. „Du bist ein Magier!“, rief sie.

„Jaaaaaaaaa… Magierrr!“, zischte es nun laut aus der Finsternis. Beide fuhren erschrocken herum. Das Licht, das von Anders‘ Händen ausging, war nicht stark, aber es reichte, um eine grauenhafte Kreatur zu beleuchten, die weiter den Gang hinab stand. Sie schien völlig aus Glassplittern zu bestehen und reflektierte das schwache Licht tausendfach. Ihre Augen jedoch glühten in unheilvollem Rot.

„Anders…“, sagte Ka, ohne den Blick von dem Splitterding abzuwenden. „Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um zu Zaubern!“

Ohne zu wissen, was er tat, presste Anders seine leuchtenden Handflächen gegen den Spiegel in ihrem Rücken.

„Neeeeiiinnn…“, krächzte das Ding.

Ka fuhr herum, und auch Anders starrte nun den Spiegel an. Die Flecken und all der Dreck zogen sich vom Glas zurück und gaben eine makellose Oberfläche frei, in der Ka und Anders sich glasklar spiegelten. Als Anders seine Hände zurückzog, ertönte ein eigenartiges Plop!. Ringförmige Wellen rollten von den Stellen aus, wo er den Spiegel berührt hatte, über dessen Oberfläche.

„NEEEEIIIINNN…“, kreischte das Monster jetzt und setzte sich in Bewegung. Es war so groß, dass es bei jedem Schritt mit den Gliedmaßen in die Spiegel links und rechts krachte und sie zerschmetterte. Wie ein Schneepflug trieb es Flocken aus Glas vor sich her, während es durch den Gang auf die beiden Kinder zu walzte.

Anders tat das einzige, was ihm in diesem Augenblick in den Sinn kam: Er stieß Ka in den Spiegel. Sie verschwand darin, als würde sie in einen aufrecht stehenden Teich fallen. Die Oberfläche des Spiegels schwappte wie Wasser. Ohne zu Zögern setzte er ihr nach. Ein seltsames Prickeln wanderte über seinen Körper, als er eintauchte. Das letzte, was er hörte, war das hasserfüllte Brüllen des Scherbenmonsters, das hinter ihnen das Spiegelkabinett zertrümmerte. Dann fiel er.

next
11. Durch den Spiegel

Anders landete weich. Er fühlte Gras zwischen seinen Fingern, als er sich vom Boden aufstemmte. Sie befanden sich auf einer Lichtung mitten in einem Wald aus hohen Tannen. Ka lag neben ihm auf dem Boden. Ihr Atem ging stoßweise. Anders dagegen war plötzlich seltsam ruhig. Es roch gut hier, nach Tannennadeln, Wildblumen und feuchter Erde. Aber irgendwas war komisch, auch wenn Anders nicht direkt den Finger drauflegen konnte.

Er drehte sich um und entdeckte einen großen, kunstvoll gerahmten Spiegel, der hinter ihnen, etwa einen halben Meter über dem Boden, in der Luft schwebte. Die Wellen schwappten noch über seine Oberfläche, aber dahinter konnte er das Scherbenmonster erkennen. Es raste vor Wut, weil seine Beute ihm entkommen war. Dabei schien es das Spiegelkabinett völlig in Trümmer zu legen. Es drang jedoch kein Laut bis zu dieser Seite des Spiegels. Anders dachte an das, was Fabil gesagt hatte: der Spiegel musste groß genug für einen sein, um hindurch zu treten.

„Hahaaaaaa!“, rief er und hüpfte ein paar Male auf der Stelle.

Nun rappelte auch Ka sich auf und blickte ihn fragend an. Er zeigte auf den Spiegel und grinste sie an. „Es kann uns nicht folgen, weil es zu groß ist.“

„Du blöder Stinker!“, rief Ka und zeigte dem Monster den Schmutzfinger, woraufhin Anders die Luft einsog. Er ertappte sich sogar dabei, dass er sich umsah, ob irgendjemand die Geste gesehen haben könnte. Ka bemerkte das und lachte. Dann tanzte sie gackernd vor dem Spiegel herum, während das Monster vor Wut zu platzen schien.

Von einer der oberen Ecken aus breitete sich plötzlich eine perfekt reflektierende Fläche über den Spiegel aus. Die Magie verflog, und der Spiegel nahm wieder den Zustand ein, den er ursprünglich auf dieser Seite hatte. Mit jedem Quadratzentimeter, den die Veränderung voranschritt, verkleinerte sich das wabernde Fenster, durch das sie auf die andere Seite sehen konnten. Anders stellte sich vor, wie die spiegelnde Fläche auf der anderen Seite in gleichem Maße immer kleiner wurde, bis schließlich der ganze Spiegel wieder verdreckt und stumpf wäre.

Ka genoss derweil ihren Triumph, und ihr Stinkefinger wanderte immer weiter nach unten, sodass das Monster ihn bis zum letzten Augenblick sehen konnte. Als der Spiegel schließlich wieder komplett undurchsichtig und reflektierend war, richtete sie sich auf, stemmte die Fäuste in die Hüften, grinste Anders an und sagte: „Komm, schauen wir uns mal um.“

„Ob das hier der Ort zwischen Raum und Zeit ist?“, überlegte Anders laut.

„Es ist komisch hier“, sagte Ka. „Als hätte irgendjemand, der noch nie einen Wald gesehen hat, versucht, einen zu malen, nachdem er eine Beschreibung bekommen hat.“ Anders sah sie erstaunt an, denn er fand, dass es eine überraschend zutreffende Beschreibung war. Ka, die seinen Blick falsch deutete, fuhr fort: „Na, sieh‘ doch mal, alle Bäume sind genau gleichweit voneinander entfernt.“

Sie legten einige Meter zurück, während Anders sie die Bäume genau besah. „Stimmt“, sagte er dann. „Sogar die Äste sind bei jedem Baum gleich. Ich habe keine Lust, sie zu zählen, aber ich würde wetten, sie haben sogar genau gleichviele Blätter!“

„Das ist so cool!“, rief Ka.

„Außerdem“, sagte Anders, „stehen hier Bäume zusammen, die man normalerweise nicht zusammen in einem Wald finden würde.“

„Streber!“, rief Ka fröhlich.

„Nein, im Ernst! Die stehen normalerweise in verschiedenen Klimazonen! Ich hab‘ in Bio aufgepasst!“

„Streeeeeber“, rief Ka erneut. Dann aber verharrte sie plötzlich und wurde ernst. „Schau, Anders. Da ist noch ein Spiegel.“ Neben einer geometrisch perfekten Palme erhob sich ein weiterer mannshoher Spiegel über dem Boden. Dieser bestand aus massivem Metall und hatte Standfüße, die wie Adlerklauen aussahen.

„Und da ist noch einer!“ Sie zeigte in eine andere Richtung. Anders‘ sah in die Richtung, in die sie wies, und entdecke noch einen Spiegel, diesmal aus Stein und mit Runen verziert. Einer Eingebung folgend, drehte Anders sich einmal langsam im Kreis und erblickte eine ganze Reihe weiterer Spiegel. Ka tat es ihm gleich und pfiff durch die Zähne.

Sieben Spiegel waren in einem perfekten Kreis angeordnet, und Ka und Anders standen nun genau in dessen Mitte. Alle Spiegel reflektierten Anders und Ka und warfen ihre Abbilder mehrfach hin und her, sodass es aussah, als wäre die ganze Lichtung von ihren Doppelgängern belagert. Dieser Ort beunruhigte ihn, beinahe noch mehr als das Spiegelkabinett. Sein Bauch kribbelte auf sehr unangenehme Weise, und an Kas gequältem Gesichtsausdruck erkannte er, dass es ihr ähnlich ging. Ihre gute Laune war plötzlich wie weggewischt.

„Anders, wie kommen wir hier wieder weg?“

Anders drehte sich im Kreis und überlegte. Ka schien es aber eilig zu haben und sagte: „Gehen wir einfach irgendwo in den Wald. Wenn hier keinen richtigen Weg gibt, ist jede Richtung die richtige.“

„Oder so falsch wie die andere“, murmelte Anders. Dann betrachtete er sich plötzlich irritiert im Spiegel. Hatte er sich verändert? Er hob seine Hände vor die Augen und fragte dann: „Findest du, ich sehe irgendwie anders aus?“

Ka wollte gerade loslachen, doch dann erstarrte sie. Sie trat näher ihn heran, und er überragte sie um einen ganzen Kopf! „Du bist größer geworden!“, rief sie überrascht. „Wie geht das?“

Doch auch Ka wirkte plötzlich anders, gar nicht mehr wie Elf. Ihre Haare waren länger und das Gesicht schmaler. Außerhalb von Raum und Zeit, dachte Anders erschrocken. Verlief die Zeit hier etwa schneller?

„Egal, welcher Weg der richtige ist, Hauptsache, wir kommen hier so schnell wie möglich weg!“, sagte Anders. Er wollte eigentlich entschlossen klingen, aber seine Stimme überschlug sich plötzlich regelrecht. Ka kicherte, erschrak dann aber über ihre eigene Stimme, die plötzlich viel tiefer klang. „Oh nein!“, quietschte Anders. Er war im Stimmbruch. Im Bio-Unterricht hatten sie darüber gesprochen.

Jedes Mal, wenn Anders auch nur blinzelte, wirkte auch Ka ein wenig größer und hagerer. Älter. Das ging schnell. Viel zu schnell.

Auch Ka schien begriffen zu haben, was hier vor sich ging, denn sie rief: „Da lang, Anders!“ Dabei zeigte sie willkürliche in irgendeine Richtung und lief los. Anders stolperte ihr unbeholfen hinterher, denn seine Füße waren ihm irgendwie im Weg. Sie waren plötzlich zu groß und viel zu weit weg. Außerdem juckte sein Gesicht wie wahnsinnig. Als er hinter Ka im Wald ankam, blieb er stehen und kratzte er sich am Kinn. Er fühlte Bartstoppeln. Es war Zeit, eine Lösung zu finden.

Die Bäume blieben ein seltsames Abbild von einer Idealvorstellung eines Waldes. Moos wuchs an allen Seiten der Bäume, da, wo es hübsch aussah. Der Waldboden war mit einzelnen Blumen und Büschen ebenfalls perfekt drapiert. Ihre eiligen Schritte hinterließen auch keine Abdrücke. So als wären sie nie da gewesen. „Ist dir aufgefallen, dass wir gar keine Spuren hinterlassen?“, fragte Anders besorgt.

„Warum sollten wir auch, wenn die Zeit hier so schnell verfliegt?“, sagte Ka keuchend. Sie war ebenfalls neben ihm stehengeblieben und blickte sich um. Hier sah alles gleich aus. Die Richtung aus der sie gerade gekommen waren, sah genauso aus wie die vor ihnen. Es war unmöglich, einen Weg aus diesem verdammten Wald zu finden. Als Anders sich umsah, blieb sein Blick auf Ka hängen. Er war völlig fasziniert, wie erwachsen Ka aussah. Ihre struppigen Haare waren lockig geworden und hingen ihr weit über die Schultern. Ihre Sommersprossen ließen sie aber trotzdem noch freundlich aussehen, auch wenn der Rest sehr erwachsen wirkte. Sie war so hübsch, dass Anders keinen klaren Gedanken fassen konnte.

„Erde an Anders, wir haben hier echt ein Problem!“ Ka rüttelte an seinem Arm und sah ihn irritiert an. „Bist du als Erwachsener etwa noch stiller als sonst?“ Sie ging um ihn herum. Anders war mittlerweile ein großer, schlanker Mann geworden. Seine Haut und seine Augen waren immer noch ungewöhnlich hell und seine schwarzen Haare rahmten sein Gesicht glatt ein. Dann wickelte sie grinsend den Bart, der ihm mittlerweile gewachsen war, um ihren Finger und grinste ihn an. „Bart steht dir, alter Mann.“ Anders aber hatte nur Augen für Kas Grübchen. Doch während er sie betrachtete, bemerkte er, dass die Lachfalten ihrer Augenwinkel immer länger wurden. Nicht wirklich schnell, aber doch so schnell, dass er dabei zusehen konnte.

„So richtig fröhlich und ausgelassen wirst du wohl nie sein, was? Selbst, wenn du ein alter Mann bist, wirst du noch Trübsal blasen.“ Es klang fast etwas traurig, und Anders wusste nicht recht, wie er das deuten sollte. Aber ihm war nun klar, dass Ka hier an Altersschwäche sterben würde, wenn ihnen nicht bald eine Lösung einfiel. Und er stand hier wie ein Idiot herum und gaffte sie an.

Er musste etwas tun, irgendwas. Ka sah in erwartungsvoll an, und er bemerkte, dass sich erste graue Strähnen in ihr Haar geschlichen hatten. „Komm, wir gehen da entlang!“, sagte Anders mit einer Zuversicht, die er nicht wirklich fühlte. Er nahm Ka an die Hand und stapfte in eine willkürliche Richtung in den unechten Wald hinein.

Nach kurzer Zeit begannen seine Füße zu schmerzen, und auch sein Rücken tat weh. Fühlte sich so etwa das Älterwerden an? Zumindest hatte Anders oft das abendliche Geseufze seiner Eltern über diese oder jene Schmerzen gehört. Sein Vater sagte immer: „Mein Sohn, Älterwerden ist Mist!“

Er korrigierte sich in Gedanken: nicht sein Vater, sondern der Typ der ihn aufgezogen hatte. Und angelogen. Warum hatten sie ihm niemals erzählt, wie er zu ihnen gekommen war? Und warum sind sie mit ihm ständig umgezogen? Waren sie auf der Flucht vor der Wahrheit gewesen? Zu seinem Heimweh mischte sich ein anderes Gefühl, das er so noch nicht kannte. Plötzlich fühlten sich Gedanken an sein Zuhause bitter an. War das überhaupt jemals sein Zuhause gewesen? Alles, was Fabil jedoch bislang erzählt hatte, hatte sich als wahr herausgestellt. Warum also nicht auch der Rest? Er beschloss, keine Bitterkeit wegen seiner falschen Vergangenheit zu fühlen. Er beschloss, dass von nun an das Land hinter den Spiegeln seine Heimat sein würde, der Sumpfkönig sein Vater und die Herrin der Dämmerung seine Mutter. Er wollte den alten Anders hinter sich lassen und vorne zu sehen. Und solange Ka bei ihm war, würde schon irgendwie alles gut werden. Er lächelte sie an.

Ka lächelte zurück, ließ seine Hand los und hakte sich stattdessen bei ihm ein. Sie sah nun aus wie eine alte Frau, aber noch immer fand er sie wunderschön. Er blickte an sich herab und stellte fest, dass seine eigenen Hände nun ebenfalls runzlig und alt waren. Die Barthaare hatten sich weiß verfärbt und hingen, ebenso wie sein Kopfhaar, lang auf seine Brust herab. Ka schien sich jedoch ebenso wenig an seinem Anblick zu stören, wie er an ihrem. Es schien alles irgendwie genauso, wie es sein sollte. Nur eben viel schneller und früher. Er konnte es sich nicht genau erklären, und den jungen Anders hätte das in den Wahnsinn getrieben. Dem alten Anders jedoch war einfach nur wichtig, dass Ka bei ihm war. Erstaunt stellte er fest, dass er glücklich war. Seine Gedanken waren nicht traurig, sondern fröhlich. Er grübelte nicht und versuchte, die Lösung dieses Rätsels zu ergründen, sondern genoss einfach das Gefühl, Ka in seinen Armen zu halten.

Das Weitergehen war nun einfach zu mühsam geworden, und sie ließen sich beide in das perfekte Gras nieder. Seine dürren Arme schmerzten und seine Gelenke protestierten dabei lautstark. So saßen sie inmitten dieses eigenartigen Waldes, hielten sich in den Armen und warteten ab, was passieren würde. Manche Dinge musste man wohl auch einfach nur geschehen lassen.

Als Anders müde wurde, hob er unter großer Anstrengung seine Arme, nahm Kas Gesicht in seine Hände und küsste sie schwach auf den Mund. Sie schreckte nicht zurück und pöbelte ihn auch nicht an, wie es die junge Ka getan hätte. Anders musste lächeln, als er an die wilde kleine Ka dachte.

„Solange wir zusammen sind, bin ich glücklich, egal was passiert, Ka.“

Mit dieser Feststellung schliefen die beiden Arm in Arm ein.

next
12. Das Land hinter den Spiegeln

Als Anders und Ka erwachten, lagen sie sich noch immer in den Armen. Beide quietschten jedoch erleichtert, als sie sich ansahen und feststellen, dass sie wieder elf Jahre alt waren. Dann bemerkten sie, wie innig sie gerade kuschelten. Beide Kinder sprangen auf, traten einen Schritt zurück und sahen sich außerordentlich angestrengt um. Anders gab sein Bestes, es so aussehen zu lassen, als wäre gar nichts passiert. Nachdem einige Sekunden vergangen waren, sagte Ka schließlich: „Das war schräg, oder?“

„Ja“, sagte Anders, „sehr schräg.“ Tatsächlich stellte er fest, dass seine Erinnerungen an den seltsamen Wald bereits zu verblassen begannen.

„Fabil sagte ja, dass der Übergang gefährlich werden würde, aber das hatte ich nicht erwartet. Meine Güte!“ Gefährlich war es gewesen, soweit konnte Anders sich erinnern. Aber irgendetwas war auch sehr schön gewesen. Wenn er sich doch bloß erinnern könnte!

Er sah sich um. Sie standen noch immer in einem Wald. Dieser jedoch sah aus wie ein Dschungel. Sehr hohe Bäume mit Lianen und fleischigen Blättern standen dicht beieinander. Grillen zirpten laut und oben in den Baumkronen raschelte es stetig. Sie hörten einen Affen kreischen. Einen Affen! Kas Augen leuchteten vor Begeisterung. Graues Dämmerlicht fiel von oben durch die Bäume herab. Anders blickte zum Himmel hinauf, konnte aber weder eine Sonne noch einen Mond entdecken. Es sah aus, als würde jederzeit die Dunkelheit hereinbrechen. Trotzdem war es sehr warm.

„Schau“, sagte Ka und zeigte zum Himmel hinauf. „Da oben ist nur ein einziger Stern.“

Anders folgte ihrem ausgesteckten Finger zu einem einzigen, hell strahlenden Stern am halbdunklen Firmament. „Sieht aus wie unser Abendstern.“

„Was fürn Stern?“

„Abendstern. Die Venus. Sie ist der einzige Stern, den man auch schon in der Dämmerung richtig gut sehen kann.“

Ka murmelte etwas, das wie „Besserwisser“ klang. Dann: „Wir sind wirklich da, oder? Im Land hinter den Spiegeln?“

„Scheint so“, sagte Anders.

Plötzlich knackte etwas im Unterholz. Die Kinder fuhren erschrocken herum, als auch schon mit lautem Getöse zwei riesige Gestalten aus dem Gestrüpp hervorbrachen. Sie mussten über zwei Meter hoch sein. Weil es so düster war, konnte Anders jedoch nur ihre kantigen Umrisse erkennen.

Ka schrie auf und wollte abhauen, als plötzlich die Arme eines dieser Dinger unmöglich lang hervorschossen und sie mit festem Griff packten. Anders wollte ihr zur Hilfe eilen, doch auch er fand sich plötzlich in einem eisenharten Klammergriff wieder. Die beiden Ungetüme hoben sie in die Luft und zogen ihre Arme wieder in den Körper zurück. Im Gegensatz zu Anders trat Ka fluchend um sich und als sie dem Ding nah genug war, erwischte sie es einige Male am Brustkorb. Aber es ertönte jedes Mal nur ein metallisches Klonk! in der Dunkelheit. Irgendwann verstummte das Geräusch, und Anders hatte mit einem Mal Angst um Ka. War sie etwa…

 „Wer seid Ihr? Was wollt Ihr?“, keuchte sie atemlos, doch bekam sie keine Antwort von den stummen Riesen. Anders war erleichtert, dass Ka nichts passiert war. Scheinbar hatte sie nur kurz Luft holen müssen, denn nun setzte sie ihren Angriff gegen das Metallmonster fort. Ohne Unterlass – und leider auch ohne Wirkung – trat sie auf das Ding ein. Auch als diese sich in Bewegung setzten und mit den beiden Kindern im Klammergriff davonstapften, ertönte immer wieder das metallische Klonk! Trotz ihrer misslichen Lage musste Anders grinsen. Ka gab einfach nie auf! Außer bei den Hausaufgaben, aber strenggenommen fing sie damit gar nicht erst an.

Während die beiden Riesen schwerfällig durch das Unterholz wankten, baumelte Anders immer wieder von links nach rechts und wieder zurück. Seinen eigenen Blechriesen konnte er nicht sehen, dafür aber den anderen, der Ka festhielt und regungslos ihre Tritte einsteckte. Er sah aus wie einer von diesen alten Metallsoldaten, mit denen sein Vater früher gespielt hatte. Also sein Ziehvater von der anderen Seite. Ganz stolz hatte der im letzten Jahr eine alte Kiste voller Soldaten, Pferde und kleiner Kanonen vom Dachboden heruntergeholt. Damals hatte Anders sich gefragt, wozu die gut sein sollten. Etwas Anderes als Krieg konnte man damit doch gar nicht spielen. Das hatte er damals schon doof gefunden, und wenn er die großen Dinger hier jetzt betrachtete, stellte er fest, dass sich daran bis heute nichts geändert hatte.

„Anders? Geht’s dir gut?“, rief Ka von vorne. Er konnte sie nicht sehen, da sie von dem Rumpf des riesigen Blechdings verdeckt wurde.

„Jahaaa“, rief Anders zurück. „Die sehen aus wie riesige Zinnsoldaten. Kannst du sehen, wer oder was die steuert?“ Er versuchte, einen Mechanismus oder irgendwelche Knöpfe oder Hebel zu finden, aber vergeblich. Er glaubte, ein leises Klicken und Knarzen aus dem Inneren des Riesen zu hören. Als hätte man sie aufgezogen, wie ein Spielzeug. Er konnte jedoch keinerlei Feder oder Aufziehschlüssel entdecken, weder vorne an seinem eigenen noch hinten an Kas Blechriesen.

„Was sie steuert?“, brüllte Ka von vorne. „Das ist mir piepegal! Ich will wissen, wo sie uns hinbringen. Hast du gehört, du hirnloser Blechheini?“ Klonk!, machte es wieder. „Wo bringt ihr uns hin?“

Plötzlich traten die beiden Maschinen aus dem Dschungel heraus und auf eine große Graslandschaft. In der Ferne sah Anders das Meer glitzern. Deutlich hoben sich die Umrisse eines Turms im Dämmerlicht ab. Er schien das Ziel der riesigen Zinnsoldaten zu sein, denn sie wankten direkt darauf zu. Mit jedem Schritt wurde der Turm größer und größer, und sie konnten immer mehr Einzelheiten des Bauwerks erkennen. Er war bestimmt 30 Meter hoch und an der Außenseite spiegelglatt. Einige Fenster zeichneten sich ab, schienen aber geschlossen zu sein.

Als sie nur noch wenige Meter entfernt waren, knirschte es laut, und ein sehr großes Tor öffnete sich am Fuße des Turms. Rumpelnd verschwanden die Torflügel links und rechts in der Wand und gaben einen finsteren Durchgang frei. Er war so groß, dass beide Zinnsoldaten ohne Schwierigkeiten hindurchpassten. Als sie eintraten, hatte Anders das ungute Gefühl, vom Turm verschluckt zu werden.

Bald standen sie in der Mitte einer riesigen Eingangshalle. Der Boden war von einem Fliesenmosaik in der Gestalt eines Kompasses eingenommen, dessen S meeresblau eingelassen war, und überall schwebten leuchtende, verschieden große Kugeln, die die Halle in mildes Licht tauchten. Ein Rattern und Klicken lag in der Luft, denn mechanische Spielzeuge aller Art knatterten kreuz und quer durch die Halle. Ein Spielmannszug aus bronzefarbenen Mäusen marschierte trommelschlagend vor ihnen entlang, Teddybären tippelten mit abgehackten Schritten herum, und mechanische Vögel flappten durch die Luft. Mit offenen Mündern bestaunten die Kinder das lautstarke Durcheinander.

„Willkommen, Anders und Ka!“, tönte plötzlich eine melodische Stimme durch die Halle. Ein Mann kam mit ausgebreiteten Armen eine große, schwindelerregend hohe Wendeltreppe herunterspaziert, welche an der Außenwand den Turm hinaufführte. Anders hatte sie zuvor gar nicht bemerkt.

„Willkommen im Turm des Südens, willkommen im Land hinter den Spiegeln!“

Der Mann war dunkelhäutig und trug eine lange, dunkelblaue Robe. Sein schlohweißes Haar war zu vielen kleinen Zöpfen geflochten und hing ihm, ebenso wie sein Bart, bis auf die Brust herab. Im Bart und in den Haaren steckten Perlen und kleine Anhänger. Sie alle hatten etwas mit dem Meer zu tun, wie Anders feststellte: Anker, Wellen, Steuerräder und so etwas.

„Mein Name ist Negew. Ich bin der Zauberer des Südens, der König über das Meer und seine Wellen.“ Er breitete wieder die Arme aus und lächelte gewinnend. Anders und Ka aber hingen stocksteif in den Eisenklauen der riesigen Zinnsoldaten und starrten ihn grummelig an.

„Oh, ähm. Mein Empfangskomitee war hoffentlich nicht zu grob zu euch?“, fragte der Zauberer besorgt und machte eine Handbewegung. Sofort entließen die Zinnsoldaten die beiden Kinder aus ihrer Umklammerung, sodass diese unsanft auf dem Steinboden landeten. Schmerz explodierte hinter Anders‘ Augen, als er mit dem Hinterkopf auf die Fliesen knallte. Er setzte sich auf und rieb sich die Beule.

„Oje, das tut mir leid!“ Der Mann kicherte verlegen und reichte beiden Kindern die Hände, um ihnen aufzuhelfen. Anders nahm sein Angebot an, doch Ka warf ihm nur einen finsteren Blick zu und rappelte sich allein auf. Dabei ächzte sie lauter, als ihr wahrscheinlich lieb war.

„Empfangskomitee? Das war ein verdammter Überfall!“, fauchte sie den Zauberer an. „Ich hatte wohl noch nie so große Angst“. Erneut trat sie mit voller Wucht gegen den Zinnsoldaten. Dann jedoch heulte sie laut auf und hüpfte auf einem Bein herum, während sie sich den Fuß hielt. Der Zinnsoldat schien unbeeindruckt, denn ihr Tritt hatte ihn noch nicht einmal ins Wanken gebracht. „Blödes Teil!“, pöbelte sie ihn an. Geduldig warteten Anders und der Zauberer, bis Kas Zorn so weit verraucht war, dass sie wieder stillstand.

Anders bemerkte, dass er noch immer die Hand des Mannes hielt und ließ sie eilig los. Er hatte die unheimliche Erfahrung mit den Zinnsoldaten schon wieder vergessen, so fasziniert war er von den Bewohnern des Turmes. Stetig entdeckte er neue Apparate - Uhren mit Ziffernblättern, auf denen die Zahlen tanzten, Spieluhren mit Artisten darauf, die durch die Luft sprangen, und noch vieles mehr. Im schummrigen Licht der großen Halle konnte er kaum Einzelheiten erkennen, aber das, was er sah, verschlug ihm die Sprache.

Der Mann lächelte. „Gefällt dir meine kleine Sammlung?“

Anders konnte nur nicken, so sprachlos war er. Auch Ka sah sich nun staunend um.

„Kommt mit, ich zeige euch alles. Und dann“, fuhr er fort, „erkläre ich euch, warum ich euch die Nachricht geschickt habe.“

next
13. Die Wahrheit über Anders

„Du warst das?“, fragte Anders überrascht.

„Genau, Anders. So nennen sie dich doch auf der anderen Seite, oder? Die Nachricht ist von mir. Ich habe zehn Jahre gewartet, dich endlich zu uns zurückholen zu können.“ Negew, Zauberer des Südens und König über das Meer, blickte kurz schmerzerfüllt in die Ferne, als würde er sich an eine schwierige Zeit zurückerinnern. Als er sich dann wieder Anders zuwandte, war sein Lächeln zurückgekehrt. „Ich bin ehrlich froh, dass ihr es durch das Zwischenreich hierhergeschafft habt. Der Weg ist sehr gefährlich.“

„Ach“, maulte Ka, „ist uns fast gar nicht aufgefallen.“

Negew ignorierte sie und sah Anders erwartungsvoll an. Dieser fühlte sich sehr unbehaglich. Sollte er etwas sagen, oder gar fragen? Es ärgerte ihn, dass scheinbar alle anderen mehr über ihn wussten, als er selbst. Erst Fabil, der Geschichtenerzähler, dann Negew, der Zauberer des Südens und auch noch König über das Meer. Anders nestelte an seinem Pulli rum und blickte auf seine Füße. Eine unangenehme Stille breitete sich aus.

Wie immer war es Ka, die das Schweigen brach: „Also, Negew, Zauberer, König und was auch sonst noch so, das war schon ‘ne gute Nummer mit der Nachricht im Adventskalender. Wir haben nicht schlecht geguckt. Aber was genau sollen wir denn jetzt hier?“

Anders warf ihr einen dankbaren Blick zu. Ka fand immer die richtigen Worte, wenn sie ihm fehlten.

Der Zauberer bedeutete den Kindern, ihm zu folgen. Er lief voran die schwindelerregend schmale Treppe den Turm hinauf. Fremdartige Türen säumten die Mauer, doch eine nach der anderen ließen sie hinter sich. Anders bestaunte die kompliziert wirkenden Zahnräder, Riemen und Federn, aus denen die Türen zu bestehen schienen. Offensichtlich waren nicht nur die Bewohner dieses Turms vollständig mechanisch. Auch kamen sie an zahlreichen Glasvitrinen vorbei, in denen sich kleine Aufziehspielzeuge tummelten. Eine große Maus auf Rädern drehte dort ihre Runden, während kleinere Mäuse auf ihrem Rücken hoch und wieder herunterfuhren. In einem anderen Schrank tanzte und hüpfte eine Ballerina aus Metall, deren Bewegungen sehr elegant wirkten. Immer wieder blieb Anders kurz stehen, um die Schöpfungen des Zauberers zu bestaunen.

„Es freut mich zu sehen, dass du meine Arbeit angemessen zu würdigen weißt.“ Negew lächelte ihn an. „Ich habe dieses faszinierende Handwerk bei einem Spielzeugmacher von der anderen Seite gelernt. Es ist aber schon ziemlich lange her. Ich glaube, mittlerweile gibt es diesen Beruf gar nicht mehr. Wirklich schade.“

Ka wedelte einen Kolibri beiseite, der ständig um ihren Kopf herumschwirrte. Seine Flügel flatterten so schnell, dass man sie kaum sehen konnte. Das ständige Surren an ihrem Ohr schien sie zu nerven.

Negew blieb an einer der Tür stehen und drückte auf einen Knopf in Form einer Seerose. Es klickte und ratterte, und die Tür rollte zur Seite. Sie gab den Blick auf eine riesige Bibliothek frei, deren Regale unzählige Bücher fassten und bestimmt drei Stockwerke hoch waren. Auch hier schwebten die leuchtenden Kugeln in der Luft und tauchten den Raum in ein warmes Licht. Zahlreiche Balustraden, Brücken und Leitern verbanden die verschiedenen Bücherregale miteinander.

Negew lotste die Kinder zu einer großen Sitzgruppe mit gemütlich aussehenden Sesseln. Nachdem sie Platz genommen hatten, wischte der Zauberer einmal ausladend mit der Hand durch die Luft. Sofort öffneten sich große Fenster an der Außenwand des Turms, und zwar von links nach rechts, der Geste des Zauberers folgend. Plötzlich erfüllte das Rauschen des Meeres die Bibliothek, und Anders konnte durch die Fenster den blau glitzernden Ozean sehen. Eine Stadt mit vielen Türmen schmiegte sich an das Ufer des Meeres.

„Du hast sicher viele Fragen, Anders.“ Negew betonte seinen Namen ziemlich seltsam. „Lass mich deine Zeit sparen, indem ich Dir alles erzähle, was ich über dich weiß. Wenn du dann noch Fragen hast, stehe ich zu deiner Verfügung.“

„O… okay“, sagte Anders. Ka sah den Zauberer mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen an, hielt aber den Mund.

„Fangen wir am besten damit an, woher du stammst“, begann Negew. „Dein Vater ist Kedem, der Zauberer des Ostens und König über die Sümpfe. Vor über zehn Jahren bekam er zusammen mit der Herrin der Dämmerung ein Kind. Es war ein Junge, und sie nannten ihn Kieran, was so viel bedeutet wie Sohn des Taus. Dieses Kind bist Du, Anders. Dein richtiger Name lautet Kieran.“

Anders sah hinüber zu Ka, die ihn schief ansah und mit dem Mund lautlos den soeben gehörten Namen formte. Sie schien zu überlegen, ob der Name zu ihm passte.

„Aber was nach deiner Geburt geschah, weiß niemand so genau. Dein Vater tat sich vermutlich mit der Nebelfee zusammen, einer der sieben Feen des Landes. Feen sind unberechenbar, müsst ihr wissen. Sie sind aber auch sehr mächtig und gefährlich.“ Negew ließ die letzten Worte noch etwas wirken, und Anders bemerkte, dass Ka schon wieder diesen verträumten Blick hatte. Man brauchte ihr nur eine wilde Geschichte zu erzählen, und schon war sie hin und weg.

„Auf alle Fälle verschwand die Herrin der Dämmerung daraufhin, und das Land im Osten versank unter einer dichten Nebeldecke. Seitdem herrscht hier überall das Zwielicht der Dämmerung. Von jenem Tag an hat niemand den Sumpfkönig oder seinen Sohn wiedergesehen. Jeder, der die Sumpflande betreten hat, um etwas über den Verbleib der beiden oder der Herrin der Dämmerung herauszufinden…“

„…ist nie wieder zurückgekehrt“, hauchte Ka.

„Stimmt“, sagte Negew. „Einige Dinge habe ich aber in den letzten Jahren herausfinden können. Zum Beispiel, dass die Herrin der Dämmerung ihren Sohn in Sicherheit bringen konnte. Sie gab ihn einem ihrer engsten Vertrauten mit, damit dieser einen sicheren Platz für ihn finden konnte. Ihr habt diesen Vertrauten unter dem Namen Fabil kennengelernt.“

„Aaah…“, machte Ka.

„Er hatte all die Jahre ein Auge auf dich, Kieran.“

„Anders“, sagte Anders.

„Er ist dir und deinen Zieheltern hinterher gezogen, um dich zu uns zu bringen, wenn du alt genug wärest. Kieran…“

„Anders“, sagte Anders noch einmal.

„Na gut, dann eben Anders.“ Negew schien ein wenig enttäuscht, fuhr aber fort. „Anders, wir glauben, du bist der einzige, der den Zauber brechen kann, der auf den Sumpflanden liegt. Nur du kannst die Herrin der Dämmerung befreien. Es ist an der Zeit für dich, nach Hause zurückzukehren.“

Anders versank in seinem Sessel. Sein richtiger Name war also Kieran. Eine schwache Erinnerung drang an die Oberfläche. Ja, der Name brachte etwas zum Klingeln. Aber nun hieß er eben Anders, und dabei würde es bleiben. Und überhaupt, wie sollte er sich gegen mächtige Feen behaupten können?

Als hätte er Anders‘ Gedanken gelesen, sagte Negew: „Du fragst dich, wie du das schaffen sollst? Du trägst die Magie deiner Eltern in dir, Kieran, du musst sie nur finden.“

„Anders“, sagte Anders nun leicht genervt.

„Entschuldigung“, sagte Negew, „Macht der Gewohnheit. Also, Anders, normalerweise würdest du bei mir oder einem anderen Zauberer der Himmelsrichtungen in eine lange Ausbildung gehen. Dafür fehlt uns nun leider die Zeit.“

„Natürlich“, sagte Ka. Negew warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. Anders wusste jedoch, dass Ka nicht sarkastisch hatte klingen wollen. Sie bewunderte lediglich die Dramaturgie der Geschichte. Er musste grinsen.

„Du musst schnell nach Osten, und ich kann dir nur wenige Dinge mitgeben, die euch den Weg erleichtern werden. Den Rest musst du selbst herausfinden.“ Dann erhob er sich und wedelte mit erhobenem Zeigefinger vor Anders‘ Nase herum. „Warte kurz.“

Er trat vor einen Schreibtisch, der vor Schriftrollen und Büchern nur so überquoll, und kramte darauf herum. Als er wiederkam, hielt er einen Kompass und ein dickwandiges Einmachglas in seinen Händen. Beides hielt er Anders hin. „Wenn ihr in den Nebel geht, werdet ihr das hier brauchen.“

Im Einmachglas befand sich Moos. Darauf lagen einige Blütenblätter, und auf diesen… lag ein kleines, geflügeltes Wesen und schlief. Ka flüsterte entzückt: „Das ist ja superniedlich! Was ist das?“

„Das ist eine Glimmfliege“, erklärte Negew. „Nur ein Insekt. Aber wenn man es schüttelt, leuchtet es.“

Er hob das Glas in die Luft und schüttelte es sanft. Das kleine Wesen darin wurde plötzlich durch das Glas gewirbelt und taumelte eine Weile benommen hin und her. Dann begann es, wild umher zu schwirren und erstrahlte in einem hellen, gelblichen Licht. Anders konnte aber trotzdem sehr gut erkennen, dass es zornig die Faust in Richtung des Zauberers reckte.

„Das war aber nicht nett“, fand Anders.

Der Magier zuckte mit den Schultern. „Es ist nur ein Insekt.“

„Ein ziemlich wütendes“, sagte Ka. Und es stimmte, denn das kleine Wesen im Einmachglas tobte noch immer im Glas hin und her. Tatsächlich schien es sogar immer heller zu werden, je weiter es sich in seine Wut hineinsteigerte.

„Ihr könnt die Glimmfliege ja frei lassen, wenn ihr draußen seid. Aber passt auf, die kleinen Mistviecher beißen.“ Jetzt streckte das kleine Wesen dem Zauberer die Zunge heraus, was Ka kichern ließ. Vorsichtig steckte Anders das Einmachglas in seine Tasche. Die Glimmfliege schien sich bald beruhigt zu haben, denn das Licht wurde schnell dunkler und verblasste schließlich.

„Und was ist damit?“, fragte Ka und zeigte auf den Kompass. Er lag in einem hübsch verzierten Holzkästchen. Eine lange Schlaufe war daran befestigt.

„Dieser Kompass wird euch den Weg zeigen. Wisst ihr, wie ein Kompass funktioniert? Die Nadel zeigt immer nach Norden und ihr müsst euch nach Osten ausrichten. Im Nebel wird er euch eine unschätzbare Hilfe sein.“

Auch den Kompass steckte Anders in seine Tasche. Dann fragte er: „Und wie kommen wir jetzt in die Länder des Sumpfkönigs?“

Negew lächelte. „Auch da kann ich euch helfen. Ich kenne jemanden, der euch so weit nach Osten bringt, wie man mit einem Schiff fahren kann. Ihr müsst nach Portemus gehen, eine Hafenstadt unweit meines Turms. Dort liegt die Nordstern vor Anker. Der Kapitän wird euch an Bord lassen, wenn ihr ihm dieses Schreiben zeigt.“ Negew griff in seine Robe und fischte einen versiegelten Umschlag hervor. Das Siegel in dem roten Wachs zeigte ein „S“ und einen Seemannsknoten. „Aber jetzt auf, Kinder. Euer Weg ist lang und die Zeit knapp. Ausruhen könnt ihr später.“

Anders warf noch einen sehnsüchtigen Blick in die Bibliothek, als Negew die beiden Kinder aufscheuchte. Sollte er wirklich ein Zauberlehrling werden, wäre dieser Turm sicherlich ein toller Ort dafür. Etwas wehmütig drehte er sich um und ging den anderen beiden hinterher.

Bald kamen sie am Fuße des Turmes an, und Negew geleitete die Kinder durchs Tor. Dort standen nun die beiden großen Zinnsoldaten Wache. Ka warf ihnen einen finsteren Blick zu, während Anders seine Tasche fest umklammerte und zaghaft nach draußen trat.

 „Eines noch, Anders“, sagte Negew. „Du hast das Potenzial, der mächtigste Zauberer aller Welten zu werden. Deine Mutter ist eine der Herrinnen der Zeit und dein Vater einer von uns vieren. Du musst gut aufpassen, denn deine Macht könnte sich in die falsche Richtung entwickeln.“

Ka kniff die Augen zusammen. „Anders ist der netteste und liebste Mensch, den ich kenne. Nie würde er irgendwem etwas Gemeines antun. Das weiß ich ganz sicher.“

Der Blick des Zauberers ruhte weiter auf Anders, während er Ka antwortete. „Das weißt du also ganz sicher, ja? Wurdet ihr nicht immer in der Schule geärgert? Was wäre, wenn er sich wehren könnte? So richtig wehren? Oder wenn jemand der Person, die er liebt, etwas antun würde?“ Dann drehte er den Kopf und sah Ka direkt in die Augen. „Was würde Anders unternehmen, wenn dir jemand wehtun würde, Ka? Bist du sicher, dass er seine Kräfte immer nur zum Wohle aller einsetzen würde?“

„Ja, bin ich!“, sagte Ka, aber Anders konnte sehen, dass die Überzeugung aus ihrer Stimme gewichen war. Auch er selbst war sich da gar nicht so sicher. Allein die Vorstellung, dass jemand Ka wehtun könnte, machte ihn schon ziemlich wütend. Würde er wirklich immer stark genug sein, der Verlockung von Macht widerstehen zu können? Nun, sie würden es bald sehen.

Mit dem Kompass, der Glimmfliege im Einmachglas und dem Brief für den Kapitän der Nordstern machten sich Anders und Ka auf den Weg in ihr großes Abenteuer.

next
mapcontextcommentchat