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3. Schokolade und Papier

So vergingen die ersten Monate in der fünften Klasse. Kas Noten wurden immer besser und Anders hatte endlich eine Freundin gefunden. Die anderen Kinder ließen die beiden soweit in Ruhe und die Lehrerinnen waren froh, dass ihre heimlichen Sorgenkinder Ka und Anders endlich Anschluss gefunden hatten.

Zu zweit machte die Schule sogar Spaß und nachmittags konnten Anders und Ka gemeinsam die Dinge tun, die ihnen Freude bereiteten. Dabei wechselten sie sich immer ab: an einem Tag war Anders der Bestimmer, am nächsten Tag war es Ka. Denn oft wollten sie eher unterschiedliche Dinge unternehmen, weshalb sie sich diese Regel hatten einfallen lassen.

So machte Ka zusammen mit Anders bei einer Schnitzeljagd mit, die von der Bücherei veranstaltet wurde. Die ging quer durch die Stadt, und Ka lernte dabei allerhand über die Gründung ihrer Stadt – was sie aber furchtbar langweilig fand. Anders dagegen lernte in einem Herbstferienkurs zusammen mit Ka Schwimmen, und dass, obwohl er schlimme Angst vor Wasser hatte. Die Angst wurde nach dem Kurs eigentlich sogar noch schlimmer. Aber immerhin hatte Anders nun keine Angst mehr vor dem Ertrinken, denn Schwimmen konnte er jetzt. Und Ka wusste jetzt, wer ihrer Stadt gegründet hat, auch wenn sie sich immer noch nicht sicher war, wofür das wichtig sein sollte. Aber so ergänzten sie sich und das Leben war für beide perfekt.

Bis zum ersten Advent, der in diesem Jahr zufällig auf den ersten Dezember fiel.

Zur Weihnachtszeit stellte sich das Leben von Anders und Ka nicht nur auf den Kopf, es machte einen Salto Rückwarts. Ka übernachtete an diesem Wochenende bei Anders und beide Kinder freuten sich schon den ganzen Samstag auf den nächsten Tag, denn Anders‘ Eltern hatten für jeden einen Adventskalender besorgt. Und mit dem ersten Dezember würden sie auch die ersten Türen ihrer Adventskalender öffnen dürfen.

Sie gingen extra früh ins Bett, damit die Nacht schneller verging. Ka lag auf einer ausgezogenen Matratze neben Anders‘ Bett und betrachtete im Licht der Leselampe die beiden Adventskalender. Der für Anders zeigte eine Weihnachtsbäckerei, und auf dem für Ka sah man den Weihnachtsmann auf einem Schlitten voller Geschenke. Auf beiden wirbelten Schneeflocken umher und in beiden warteten vierundzwanzig kleine Schokoladenplättchen darauf, von ihnen verputzt zu werden. Draußen prasselte der Regen ans Fenster. Ka beobachtete eine Weile, wie die Tropfen am Glas zerplatzten. Dann sah sie zu Anders hinüber, der mal wieder in ein Buch versunken war. „Das Wetter weiß noch nicht, dass bald Dezember ist.“

„Mh?“, machte Anders. Das kannte Ka schon von ihm – sobald seine Nase in einem Buch steckte, bekam er kaum noch etwas mit. Trotzdem redete sie weiter. „Sollen wir uns nicht einen Wecker stellen und um Mitternacht einfach schon das erste Türchen aufmachen?“

„Mhmh.“

„Technisch gesehen fängt der erste Dezember doch schon um Mitternacht an, oder?“

„Mhmh.“

„Ach, bestimmt kann ich eh nicht schlafen, dabei sind es noch vier Stunden bis Mitternacht!“

„Mh.“

„Was soll ich nur machen? Das ist langweilig! Noch vier Stunden. VIER Stunden, Anders. ANDERS!“

Anders sagte, ohne seinen Blick von den Zeilen zu lösen: „Du könntest ein Buch lesen.“

Ka sah ihn verständnislos an. „Und was ist daran weniger langweilig?“

Anders seufzte und legte sein Buch weg. „Was machst du denn eigentlich zu Weihnachten? Feierst du Heiligabend mit deinem Vater?“

Kas Gesicht verdunkelte sich. „Keine Ahnung. Letztes Jahr kam er erst irgendwann in den Ferien, ein paar Tage nach Heiligabend. Er war mit Piraten segeln und weil Piraten kein Weihnachten feiern, konnte er sie nicht überreden, an Heiligabend am Hafen anzulegen und ihn von Bord zu lassen.“

Anders zog die Augenbrauen hoch, da sprang Ka auf und wühlte in ihrer Tasche. „Da!“, rief sie nach einer Weile und zog etwas Goldenes heraus, das sie auf Anders‘ Bett warf. Fasziniert betrachtete er den Gegenstand und hob ihn schließlich auf. Es war eine Goldmünze, handtellergroß, mit einem Totenkopf auf der einen Seite und zwei vor einer Schatztruhe gekreuzten Säbeln auf der anderen. Sie war ziemlich schwer, viel schwerer als die Goldmünzen, die man zum Spielen kaufen konnte.

Ka setzte sich neben Anders aufs Bett. „Die hat er mir als nachträgliches Weihnachtsgeschenk mitgebracht. Eine Goldmünze aus einem Piratenschatz.“ Während Anders die Münze in der Hand hin und her drehte, fügte Ka leise hinzu: „Das ist doch viel cooler als Weihnachten feiern. Mit langweiligem Essen und langweiligen Liedern und blöden Geschenken und diesem ganzen anderen blöden Zeug.“

Irgendwie glaubte Anders nicht, dass Ka jemals etwas von diesem angeblich so blöden Zeug gemacht hatte, schon gar nicht, als sie sich auf ihre Matratze fallen ließ und sich mit einem „Ist ja auch egal, gute Nacht!“ die Decke über den Kopf zog.

Anders saß noch eine Weile auf dem Bett und blickte nachdenklich zwischen der Goldmünze und den Adventskalendern auf seiner Kommode hin und her. Er ertrug es nur schwer, wenn Ka traurig war, und eigentlich war sie ziemlich oft traurig, auch wenn sie andauernd wilde und lustige Geschichten erzählte.

Entschlossen stand Anders auf und ging zu den Adventskalendern. „Komm, Ka. Lass uns einfach das erste Türchen aufmachen.“

Seine Mutter erzählte immer, dass Schokolade gute Laune machte, und die konnte Ka jetzt gebrauchen. Ka sprang sich sofort auf und grinste breit. Dinge, die entweder richtig verboten waren oder die man einfach „nur nicht machte“, bereiteten Ka immer die größte Freude. So auch jetzt. Das erste Türchen VOR Mitternacht zu öffnen, da war sie natürlich sofort dabei. Sie hüpfte aus dem Bett, flitzte zur Kommode und fummelte direkt das erste Türchen mit der goldenen und glitzernden „1“ darauf auf. Dahinter steckte ein kleines Stück sternförmige Schokolade, das sofort in ihrem Mund verschwand. Sie grinste Anders an. „Jetzt du!“

Im Gegensatz zu Ka fühlte Anders sich bei solchen Dingen nie besonders wohl. Für seine Freundin gab er sich aber einen Ruck und öffnete das erste Türchen seines Kalenders. Dahinter steckte aber keine Schokolade, sondern ein kleines Stück gefaltetes Papier. Verwundert zupfte Anders es heraus, während Ka ihm erstaunt über die Schulter blickte. Er entfaltete das Papier und las laut vor, was darauf in winzig kleiner Schrift geschrieben stand:

Anders, hilf uns!


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4. Nachricht von der anderen Seite

Anders, hilf uns?“, wiederholte Ka ungläubig. Auch Anders las wieder und wieder, was auf dem kleinen Stück Papier geschrieben stand. „Das muss ein schlechter Witz sein. Da will dich jemand veräppeln. Das waren bestimmt deine Eltern“, meinte Ka. Anders überlegte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Eltern so etwas tun würden. Eigentlich waren sie immer sehr ernst und würden niemals jemandem einen Streich spielen. Und ihm schon gar nicht.

„Der Kalender war noch eingeschweißt, als ich ihn hier mit ins Zimmer genommen habe. Erst vorhin habe ich die Folie abgemacht. Du warst doch dabei, Ka!“ Anders blickte zum Papierkorb, in dem die Folie noch lag, aus der er erst vor dem Schlafen die Adventskalender ausgepackt hatte. Er drehte den Kalender um, aber auch hinten sah er keine Spuren, dass ihn jemand geöffnet hätte. Ein Sticker über der Faltlasche wirkte unberührt. „Hinten wurde der Kalender auch nicht geöffnet, das würde man sehen.“, dachte Anders laut nach. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und überlegte.

Ka sah ihn erwartungsvoll an. Anders hatte diesen einen bestimmten Gesichtsausdruck, den er immer hatte, wenn er ein Problem wälzte. Ka fing an, auf den Füßen herum zu wippen. Sie wusste aber schon, dass man Anders in solchen Momenten nicht stören sollte, also wartete sie. Irgendwann begann sie, wie ein Tiger im Käfig in Anders‘ Zimmer auf und ab zu marschieren. Anders überlegte immer noch und so langsam wurde Ka richtig ungeduldig. Woher kam dieser Zettel? Wer hatte ihn geschrieben und was sollte die Botschaft bedeuten?

Schließlich hielt Ka es nicht mehr aus. „Anders, wir müssen die anderen Türchen aufmachen!“ Erschrocken sah Anders sie an. Alle Türchen, und das noch vor dem ersten Dezember? Allein der Gedanke daran brachte ihn aus der Fassung. Das hatte man also davon, wenn man sich nicht an die Regeln hielt. Wenn man eine brach, folgte direkt die nächste auf dem Fuß.

Manchmal nervte Anders sie richtiggehend mit seiner Vorsicht, aber dennoch hatte Ka oft im Nachhinein eingestehen müssen, dass Anders die Dinge besser oder zumindest schlauer angepackt hatte als sie. Oft war ihnen nämlich Ärger erspart geblieben, weil Anders nie etwas Unüberlegtes tat. Darum tat ihr tatsächlich ein wenig Leid, was sie als nächstes machte: sie flitzte zum Kalender und öffnete Türchen Nummer 2.

Anders atmete erschrocken ein und brauchte eine Weile, um sich von dem Schock zu erholen. Währenddessen öffnete Ka schon Türchen Nummer 3 und danach direkt die Nummer 4. Keine Schokolade, sondern ein weiteres gefaltetes Papierstück nach dem anderen segelte auf die Tischplatte. Beim fünften Türchen gelang es Anders endlich, sich aus seiner Schockstarre zu befreien. Schnell schrieb er die Zahlen der Türen auf die Zettelchen, damit sie hinterher nicht puzzeln mussten. Währenddessen arbeitete Ka sich durch den ganzen Kalender und warf ein Zettelchen nach dem nächsten auf Anders Hausaufgaben, die ordentlich auf dem Schreibtisch lagen und darauf warteten, morgen erledigt zu werden. Normalerweise erledigte er sie immer direkt nach der Schule, aber Ka war am Freitag direkt mit zu ihm nach Hause gekommen, und nach Schulschluss wollte Ka mit Schulsachen nichts mehr zu tun haben.

Als der Kalender leer war, setzte sich Ka an den Schreibtisch und sah zu, wie Anders die letzten Zahlen auf die Zettelchen schrieb. Dabei strich er sich nervös durch die schwarzen Haare und öffnete mit zitternden Fingern ein Papierstück nach dem anderen. Er hatte ein sehr, sehr ungutes Gefühl, denn auf allen stand mit der gleichen sauberen Schrift und in ganz kleinen Buchstaben etwas geschrieben. Anders legte alle vierundzwanzig Zettel nacheinander auf den Tisch und las vor:

Anders, hilf uns! Der Sumpfkönig hat mich gefangen genommen und nur du kannst mich retten. Du musst nach Hause kommen! In das Land hinter den Spiegeln.
Der Geschichtenerzähler kennt den Weg. Finde den Geschichtenerzähler!
Deine Mutter von der anderen Seite.



Anders schwieg, und das ungute Gefühl breitete sich weiter in ihm aus. Ka sah ihn besorgt an und fragte unsicher: „Deine Mutter von der anderen Seite? Also deine echte Mutter?“

Anders sah sie verwirrt an. „Meine echte Mutter? Was meinst du damit?“

Jetzt war Ka verwirrt. „Aber … ich dachte immer, deine Eltern sind gar nicht deine richtigen Eltern.“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Naja…“ Ka wusste gar nicht, wie sie das vorsichtig sagen sollte. Sie war nicht gut darin, Dinge vorsichtig zu sagen. Außerdem hatte sie Angst vor Anders‘ Reaktion, richtig große Angst sogar. Trotzdem wagte sie es.

„Naja, also erstmal seht ihr euch gar nicht ähnlich. Und dann sind sie … echt komisch. Ich meine, sie sind toll und lieb und so, und ich bin ja auch gerne hier. Aber findest du sie nicht auch echt komisch? So, als hätten sie viele Geheimnisse und würden nicht immer bei der Wahrheit bleiben?“

Ka kannte sich mit Lügen aus und hatte auch Erfahrungen damit, ständig Ausreden für irgendwas zu erfinden. Sie hatte große Angst, dass Anders genau DAS jetzt sagen könnte.

Trotzdem fragte sie: „Weißt du zum Beispiel überhaupt, was sie arbeiten?“

Anders aber wurde nicht böse über das, was Ka über seine Eltern sagte. Er war nun mal anders. Er überlegte. „Sie arbeiten bei einer Versicherung. Da verkaufen sie…Versicherungen.“ Seine Stimme klang zweifelnd.

Mehr wusste er darüber nicht, nicht einmal, wie die Versicherung hieß oder wo der Firmensitz war. Eigentlich redeten sie nie über die Arbeit. Oder über irgendwas anderes als über ihn. Ka hatte Recht, seine Eltern waren ziemlich seltsam. Wenn er über all die Dinge nachdachte, die sie so taten, konnte er sich tatsächlich vieles nicht erklären. Anders hatte nicht nur Schwierigkeiten, Freunde zu finden, weil sie ständig umgezogen waren, er hatte auch nie andere Kinder zu sich einladen dürfen. Auch hatten seine Eltern ihn nie irgendwohin gefahren. Sie hatten auch nie an irgendwelchen Bastelnachmittagen im Kindergarten oder Elternabenden in der Schule teilgenommen. Wenn ein Nachbar an der Tür geklingelt hatte, hatten sie nicht aufgemacht und ihm auch stets verboten, in der Nachbarschaft mit Kindern zu spielen.

Bei Ka war es anders. Sie war einfach mitgekommen und hatte sich nicht um irgendwelche Verbote geschert. Und weil seine Eltern sie einfach als Freundin akzeptiert hatten, dachte Anders, sie wären insgeheim auch froh um Ka gewesen. Aber wenn er jetzt genau darüber nachdachte, stellte er sich die Frage, ob sie Ka nur akzeptierten, weil sie selbst niemanden hatte, der nachfragte. Im Nachhinein schienen seine Eltern fast erleichtert zu sein, dass sie Kas Vater nie trafen oder er genauer wissen wollte, wo seine Tochter war. Anders hatte das Gefühl, als fielen gerade zwei Puzzleteile an ihren Platz.

Er wollte dazu etwas sagen, als die Zimmertür sich in dem Moment öffnete und Anders‘ Mutter im Zimmer stand. Schwungvoll rief sie „Ich habe Licht gesehen. Warum schlaft ihr …“ Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als ihr Blick auf den geplünderten Adventskalender und die vielen Zettelchen auf Anders‘ Schreibtisch fielen. Die nackte Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben.

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5. In den Regen

Anders‘ Mutter war mit einem Satz beim Schreibtisch und starrte die Papierstückchen an, die Anders und Ka zu der geheimnisvollen Nachricht zusammengesetzt hatten: „Anders, hilf uns! Der Sumpfkönig hat mich gefangen genommen und nur du kannst mich retten. Du musst nach Hause kommen! In das Land hinter den Spiegeln. Der Geschichtenerzähler kennt den Weg, finde den Geschichtenerzähler! Deine Mutter von der anderen Seite.“

„Wo habt ihr das her?“, fragte sie mit schriller Stimme. Anders sagte nichts und Ka zeigte mit dem Finger auf den Adventskalender. Anders‘ Mutter nahm den Kalender, drehte ihn hin und her und betrachtete die offenen Türchen ohne Schokolade darin. Sie räusperte sich und bemühte sich um einen normalen Gesichtsausdruck. Es gelang ihr nicht besonders gut. Betont ruhig sagte sie: „Na, da hat sich wohl jemand einen Scherz erlaubt. Ich bringe ihn ins Geschäft zurück, damit du noch deine Schokolade haben kannst, mein Schatz. Aber jetzt müsst ihr ganz schnell schlafen. Es ist schon spät.“

Sie sammelte schnell alle Papierstücke ein und stürmte mit dem Kalender aus dem Zimmer. Die Tür knallte sie unbeabsichtigt hinter sich zu. Die beiden Kinder sahen sich an. Anders ging zur Tür, machte das Licht aus und öffnete die Tür einen Spalt, um zu lauschen. Unten hörte er seine Eltern aufgeregt diskutieren, aber sie sprachen so leise, dass er sie nicht verstehen konnte.

„Was machen wir jetzt?“, flüsterte Ka im Dunkeln.

„Ich weiß nicht“, sagte Anders, „aber ich fürchte, sie fangen an zu packen.“ Und tatsächlich hörte er, wie unten Schranktüren geöffnet und in Schubladen gekramt wurde. Durch den Spalt in der Tür beobachteten sie, wie Anders‘ Vater ihren großen Koffer aus dem Flurschrank hievte.

„Vielleicht solltest du das auch tun“, murmelte Ka, die neben Anders an der Tür stand.

„Was? Packen? Aber ich will nicht wieder wegziehen!“, sagte Anders.

„Das meine ich auch nicht“, grinste Ka. Ihre Augen funkelten im Dunkeln. „Wir sollten den Geschichtenerzähler finden und in das Land hinter den Spiegeln reisen.“

„Aber wo sollen wir da anfangen? Ich kenne keinen Geschichtenerzähler.“

„Ich schon“, erwiderte Ka. Sie knipste das kleine Nachtlicht an, zog hastig ihren Schlafanzug aus und ihre Kleidung wieder an. Dann stopfte sie die restlichen Sachen in ihren Rucksack. „Komm, Anders! Wenn du jetzt nicht abhaust, wirst du mit denen da umziehen.“ Ka zeigte demonstrativ mit dem Finger auf die Tür. „Und das vermutlich direkt nach dem Frühstück.“

Anders‘ Augen wurden riesengroß bei der Vorstellung, wieder umziehen zu müssen und seine einzige Freundin zurückzulassen. Schnell suchte er seinen Rucksack und eilte zum Kleiderschrank. Dort zögerte er jedoch. Was sollte er einpacken? Ein T-Shirt oder einen Pulli? Einen langen oder einen kurzen Schlafanzug? Er wusste doch gar nicht, wie das Wetter im Land hinter den Spiegeln wäre, wie um alles in der Welt konnte er das denn entscheiden?

Ka sah ihn ein wenig mitleidig an. Dann schob sie ihn sanft beiseite, griff in Anders‘ Schrank und stopfte von allem eine normale und eine gefütterte Ausführung in seinen Rucksack. Das entspannte ihn ein wenig. Nachdem er auch Socken und Unterwäsche für drei Tage rausgesucht hatte, blieb er mitten im Zimmer stehen. Er wusste nicht, was er als nächstes tun sollte. Ka wühlte in der Zwischenzeit in einer von Anders‘ Spielzeugkisten herum und fischte eine Taschenlampe heraus. Dann bugsierte sie Anders zum Fenster, drückte ihm Turnschuhe und Regenjacke in die Hand und öffnete das Fenster.

Anders Zimmer lag zwar im ersten Stock, aber das Dach vom Fahrradschuppen, der hinten im Garten stand, grenzte an sein Zimmer. Man konnte also bequem aus dem Fenster klettern und vom Dach des Schuppens die Regenrinne runterrutschen. Zum Glück hing ein altes, unbepflanztes Rosengitter an der Schuppenwand und erleichterte den Abstieg. Es regnete zwar immer noch, aber Ka warf ihr Bein schwungvoll über den Fenstersims, ließ sich lautlos aufs Dach nieder und huschte geduckt zur Regenrinne. Von dort aus raunte sie Anders zu: „Pass hier auf, es ist nass und rutschig!“ Und dann war sie auch schon über die Dachkante und aus Anders‘ Blickfeld verschwunden. Er war beeindruckt, denn Ka trug sie nur ihre Hausschuhe und eine viel zu lange Jacke von Anders, die sie aus seinem Kleiderschrank gekramt hatte, weil ihr Anorak und ihre Winterstiefel unerreichbar unten im Flur waren. Trotzdem hatte sie keine Minute von Anders‘ Fenster nach unten in den Garten gebraucht.

Anders stand am Fenster und blickte hinaus in die verregnete Dunkelheit. Dann wieder zurück zur Zimmertür, unter der das Licht aus dem Flur hindurch schimmerte. Er hörte die Geräusche und das Gemurmel seiner Eltern und sein Herz wurde schwer. Aber eine leise Stimme in seinem Kopf drängte ihn, zu gehen. Einfach so konnte er aber nicht. Er ging zurück zum Schreibtisch, schlug sein Deutschheft auf und schrieb:

Es tut mir leid. Ich muss wissen, was es mit der Nachricht auf sich hat. Ich habe euch lieb, danke für alles. Euer Anders.

Wenn die beiden nicht seine leiblichen Eltern waren, war es doch total lieb, dass sie sich so viele Jahre um ihn gekümmert hatten. Obwohl Anders einen furchtbar dicken Kloß im Hals hatte und mit den Tränen kämpfte, ging er wieder zum Fenster. Nachdem er seine Jacke und Turnschuhe angezogen hatte, kletterte er ebenfalls hinaus. Vorsichtig ging er übers Dach und versuchte, Ka auf ihrem Weg zu folgen. Er stellte sich nicht ansatzweise so geschickt an wie Ka, sondern fing sich ein paar blaue Flecken an den Beinen und Schrammen an der Hand ein. Aber auch er schaffte es nach unten. Als er unten ankam, keuchte er vor Anstrengung. Ka wartete ungeduldig im Regen auf ihn.

„Wieso kannst du das so gut?“, fragte er atemlos. „Hast du das schon mal gemacht?“

„Och“, meinte Ka und stapfte los in Richtung Gartentor. „Vielleicht so zwei- oder dreimal.“

Es regnete heftiger und Anders‘ Haus verschwand hinter den Kindern in der Dunkelheit. Nur das hellerleuchtete Erdgeschoss, in dem Anders‘ Eltern von einem Zimmer zum nächsten hetzten, war hell erleuchtet. Anders‘ Tränen vermischten sich mit dem Regen, als er schniefend hinter Ka die Straße hinunter stapfte. Seine Freundin lächelte ihm aufmunternd zu, ergriff seine Hand und zog ihn mit sich in die Nacht hinaus.

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6. Der Geschichtenerzähler

Mit geschulterten Rucksäcken und den wenigen Habseligkeiten, die sie in der kurzen Zeit dort hatten einpacken können, stapften die Kinder durch die verregnete Nacht. Anders kämpfte mit seinem Abschiedsschmerz und Ka behielt die Straße im Auge. Zwei Kinder, die nachts durch die Gegend laufen, würden leicht auffallen, daher schlugen sie bald einen Weg durch die Gassen abseits der Hauptstraße ein. Anders kannte sich hier gar nicht aus und verlor schon bald die Orientierung. „Wo gehen wir denn hin? Was weißt du über den Geschichtenerzähler?“

Ka überlegte. „Das ist schon eine Weile her, da war ich mit meinem Papa in dem großen Einkaufszentrum hier in der Gegend. Kennst du das? Da hat mein Papa einen der Männer, die da immer im Eingangsbereich sitzen, gegrüßt und sich kurz mit ihm unterhalten. Als ich ihn gefragt hab‘, wer das sei, meinte er, es sei ein Geschichtenerzähler.“

Anders blieb stehen. „Du meinst doch nicht etwa einen der Obdachlosen da?“

Nun blieb auch Ka stehen und drehte sich zu ihm um. „Also erstens weiß ich nicht, wo die wohnen. Die sitzen da nur. Und zweitens hat mein Papa gesagt, in dieser Welt gibt es keinen Platz für Geschichtenerzähler, und deshalb sitzt der da halt den ganzen Tag rum und hat nix zu tun. Hast du etwa ein Problem mit … Obdachlosen?“ Das letzte Wort betonte sie ganz komisch.

Eine Weile lang war Anders sprachlos. Dann sagte er: „Wenn wir an Leuten vorbeikommen, die auf der Straße sitzen, sagt meine Mama immer, dass ich schnell an denen vorbeigehen und ihnen kein Geld geben soll.“ Jetzt, wo er es gesagt hatte, merkte er, dass es sich irgendwie falsch anfühlte. Ka zog die Augenbrauen hoch, was sein Gefühl bestätigte. Sie drehte sich jedoch kopfschüttelnd um und ging weiter. Anders folgte ihr und war sich mit einem Mal nicht mehr so sicher, ob dieser Ausflug eine gute Idee gewesen war.

Eine halbe Stunde waren sie schweigend durch den Regen gegangen, und mittlerweile waren sie ziemlich durchnässt (Ka trug immer noch nur ihre Hausschuhe). Da sahen sie das Einkaufszentrum, dessen Leuchtreklame in der Nacht hervorstach, während der Rest drum herum im Dunkeln lag. Ka steuerte einen der Eingänge an, wo einige Gestalten sich in Decken und Schlafsäcke gewickelt hatten. Sie lauschten einem Mann, der in ihrer Mitte auf einer umgedrehten Getränkekiste saß. Als sich die Kinder näherten und endlich aus dem Regen unter das Vordach traten, setzten sich einige von ihnen auf. Der Mann in der Mitte aber erzählte weiter. Zu seinen Füßen hockte ein kleiner struppiger Hund, der seine Nase in Kas und Anders‘ Richtung reckte und schnüffelte.

Aus einem Haufen aus löchrigen Decken und alten Daunenjacken ertönte die raue Stimme eines Mannes. „He, ihr zwei! Was macht ihr denn hier draußen? Ist doch viel zu spät für Kinder! Und kalt ist es auch!“

Ka trat zwischen die abgerissenen Gestalten und sagte mutig: „Wir suchen den Geschichtenerzähler.“ Dabei blickte sie dem Mann in der Mitte herausfordernd in die Augen.

Der Mann drehte sich auf seiner Bierkiste um und lächelte. Er war ziemlich schmutzig. Seine Haare und sein Bart hingen bis zu seiner Brust herab und erinnerten Anders an altes, feuchtes Stroh. Er trug etwas, das aussah wie ein altes Clownskostüm, mit Glöckchen und Zotteln überall. Die meisten von ihnen waren aber zum Teil schon abgerissen oder hingen am letzten Faden. Der Blick des Mannes wanderte nun von Ka zu Anders herüber, um sein Lächeln verbreiterte sich zu einem Grinsen.

In Anders‘ Kopf explodierten bruchstückhafte Erinnerungen. Er kannte diesen Mann, kannte dieses Grinsen. Aber woher und wie? Anders schüttelte den Kopf, um die verschwommenen Bilder gerade zu rücken. Der Mann aber sagte leise: „Hallo Anders, schön dich zu sehen.“

Ka blickte verwirrt zwischen den beiden hin und her, kannte Anders ihn doch?

Dieser fragte unsicher: „Bist du der Geschichtenerzähler?“

„Das bin ich wohl“, sagte der Mann jetzt lauter und breitete seine Arme aus. „Ich erzähle Märchen und Geschichten, die das Herz wärmen, euch das Blut in den Adern gefrieren, euch Tränen der Trauer und Freude weinen und die euch vergessen lassen, wie leer eure Bäuche und wie trist eure Gedanken sind.“

Dieselbe raue Stimme, die gerade Ka und Anders angesprochen hatte, sagte nun: „Und zur Unterhaltung, wenn man halt kein Kabelfernsehen hat.“ Alle lachten. Einige husteten. Der Geschichtenerzähler grinste noch breiter. „Kommt, Anders und auch du, kleine Freundin von Anders. Setzt euch zu uns, ich will euch eine Geschichte erzählen.“

„Ich heiße Ka“, verkündete Ka, „und ich bin nicht klein.“

„Natürlich, verzeih‘ mir bitte, Ka. Ich wollte nicht unhöflich sein. Also, wollt ihr euch nun zu uns setzen?“

Die Gestalten am Boden rutschen beiseite, um Anders und Ka Platz zu machen. Ka ließ sich ohne zu Zögern auf eine fleckige Matratze fallen und zog sich eine müffelnde Wolldecke über die Beine, die ihr einer der anderen hingehalten hatte. Anders folgte ihr nach deutlichem Zögern. Nachdem sie es sich halbwegs gemütlich gemacht hatten, begann der Geschichtenerzähler.

„Hinter den Spiegeln, dort, wo kein Blick hinreicht, existiert eine fantastische Welt voller Wunder und Magie. Im Land hinter den Spiegeln regierten einst drei Schwestern, die mächtigsten Hexen, die man jemals gesehen hat. Sie waren die Herrinnen über die Zeit.
Die älteste der Schwestern war die Herrin des Tages. Sie war voller Tatendrang, Mut und sonnigen Gemüts. Ihre goldenen Haare waren wie Flammen und sie selbst war stets in Licht und Wärme gehüllt. In ihrer Zeit des Tages fand das Leben statt.
Die jüngste Schwester war die Herrin der Nacht, anmutig und geheimnisvoll. Sie war die Schutzherrin der Liebenden, aber auch aller anderen Dinge, die im Verborgenen geschahen. In ihren Augen glitzerten die Sterne, und ihre Gewänder leuchteten silbern wie der Mond.
Beide begegneten sich stets nur zur Tageszeit der mittleren Schwester, der Herrin der Dämmerung. Sie war die rätselhafteste und verträumteste der Schwestern, und ihre Stimme war sanft und kühl wie der Morgentau. In ihrem Zwielicht, dort, wo Tag und Nacht in einander übergehen, waren die drei Schwestern vereint. Innerhalb dieser wenigen Minuten besprachen sie die Geschicke des Landes hinter den Spiegeln und reichten die Bürde der Herrschaft unter einander weiter.
In diesem Land leben auch andere mächtige Zauberer und magische Wesen. Vier Zauberer regieren im Norden, Osten, Westen und im Süden. Sie ernannten sich zu den Königen der vier Reiche der Himmelsrichtungen. So auch der Zauberer des Ostens, der sich selbst Sumpfkönig nennt und dort über die sumpfigen Marschen regiert. Er ist ein kluger aber auch ein gieriger Mann, dessen liebste Tageszeit die Dämmerung ist. Er ertrug es nicht, dass die Dämmerung stets so schnell schwand wie sie aufkam, und so tat er sich mit der Nebelfee zusammen, einer der sieben Feen des Landes, um die Herrin der Dämmerung mit der Hilfe eines mächtigen Zaubers gefangen zu nehmen.
Seitdem befindet sich die Welt hinter den Spiegeln in ewigem Zwielicht, denn die Herrin der Dämmerung ist nicht da, um die Herrschaft an ihre Schwester abzugeben, die Herrin der Nacht. Das Leben ist aus dem Takt geraten, weil die drei Schwestern nicht mehr zusammenkommen können.
Doch gibt es einen Jungen, der zur Herrin der Dämmerung gelangen und sie befreien kann. Einen fünften Magier, auf den das Land hinter den Spiegeln zehn lange Jahre gewartet hat. Bis heute.“


Und damit warf er Anders einen sehr bedeutungsvollen Blick zu.


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7. Durch die Spiegel

„Schöne Geschichte“, tönte es aus dem Haufen aus Decken und Schlafsäcken heraus.

„Du und dein magisches Land“, seufzte eine andere Stimme.

Der Geschichtenerzähler ignorierte es und blickte Anders unverwandt an. Ka hatte von ihrem Vater ähnliche Geschichten gehört, von mächtigen Magiern, die sich zu Königen ausgerufen haben, und von noch mächtigeren Feen und den drei Hexenschwestern. „Wie kommen wir da hin?“, fragte sie schließlich.

Anders dagegen schien völlig aus der Bahn geworfen. Sein Mund stand offen, während er den Geschichtenerzähler anstarrte. Dieser drehte seinen Kopf in Kas Richtung, ohne den Blick von Anders zu nehmen. „Folgt mir.“

Er erhob sich, und der kleine struppige Hund sprang ebenfalls auf und hüpfte schwanzwedelnd um den Geschichtenerzähler herum. Der war ziemlich groß, wie Ka nun, da er aufgestanden war, sehen konnte. Als er hinaus in den Regen trat, schob sie Anders an, der immer noch wie vom Donner gerührt war. Dann aber folgten sie dem Geschichtenerzähler in die Nacht und ignorierten die weiteren Zurufe der übrigen Versammlung.

Der Geschichtenerzähler ging schnellen Schrittes voran, und die Kinder mussten sich beeilen, um nicht hinter ihm zurückzufallen. Sie bogen in die Gassen hinter dem Einkaufszentrum ein. Die Hallen und Lagerhäuser hier waren um diese Uhrzeit und am Wochenende leer und dunkel.

Anders fühlte sich nicht wohl. Ganz und gar nicht wohl. Ihm war kalt, er war durchnässt, und die Geschichte über den Sumpfkönig und die Nebelfee hallte in seinem Kopf wider. Außerdem kam ihm dieser Mann bekannt vor, und zwar auf eine ungute Art. In seiner Erinnerung war der Mann deutlich jünger, trug keinen Bart und hatte einen gehetzten Blick. Auch andere Erinnerungen tauchten auf: ein weites Moor, still und kalt, und tanzende Lichter über ruhigem Wasser. Die Stimme einer Frau. Ein Lied, traurig aber wunderschön. Nebel, der nach Herbstlaub roch und sich wie Heimat anfühlte.

Kas entrüstete Stimme riss ihn aus seinen verwirrten Gedanken. „Was? Das soll ja wohl ein Witz sein!“

Sie standen in einer Gasse, in der sich der Müll neben Tonnen stapelte. Nur eine einzige Straßenlaterne in der gesamten Reihe funktionierte noch, und die schien direkt auf einen Pappkarton. Es war einer von diesen großen, in denen Kühlschränke verschickt wurden. Vor der Öffnung hing ein alter Teppich mit Mottenlöchern, und auf die Seiten hatte jemand mit schmierigem Edding Fenster mit Blumenkästen gemalt.

„Bitte!“, sagte der Geschichtenerzähler und verneigte sich. „Mi casa es su casa. Tretet ein! Drinnen können wir uns ein wenig aufwärmen.“ Er duckte sich unter dem Teppich hindurch und verschwand im Inneren des Kartons. Der Hund lief ihm bellend hinterher. Dann war es still in der Gasse.

Ka ging einmal verwundert um den Karton herum. Für einen Mann und einen Hund war er definitiv zu klein. Nachdem sie ihre Runde gedreht hatte, trat sie neben Anders. Sie zuckte mit den Schultern, grinste ihn schief an und verschwand dann ebenfalls im Karton. Anders gefiel das alles immer weniger, und er hätte gern mehr Zeit gehabt, um die Situation gründlich zu durchdenken. Aber nun stand er allein im Regen, in einer dunklen Gasse mitten in der Stadt, und das gefiel ihm noch weniger. Also gab er sich einen Ruck und trat ebenfalls ein.

Und lief direkt in Ka hinein, die mit offenem Mund stehen geblieben war. Bevor Anders sich umsehen konnte, fühlte er eine behagliche Wärme, roch Tee und süßes Gebäck und hörte ein Feuer knistern. „Mann…“, hauchte Ka. Und Anders, der Ka etwas beiseiteschob, konnte nun ebenfalls kaum glauben, was er sah.

Sie standen in einem gemütlichen, mit flauschigen Teppichen ausgelegten Wohnzimmer. An den Wänden hingen allerhand Bilder – Fotografien, richtige Gemälde und sogar ein paar Wandteppiche. Das Zimmer war jedoch dermaßen zugestellt, dass die Kinder nicht richtig erkennen konnten, was die Bilder zeigten. Überall standen Tische mit Dekokram und Nippes. Es gab auch allerhand verschiedene Sitzgelegenheiten sowie Regale mit allem möglichen Zeugs, von Spieluhren über Bücher bis hin zu Lampen. Es sah aus wie bei einem äußerst unordentlichen Antiquitätenhändler, fand Anders. In der Ecke vor einem großen Bücherregal stand ein gemütlicher Lesestuhl, und neben diesem prasselte in einem Kachelofen ein kleines Feuer.

Der Hund kläffte noch ein paar Mal fröhlich, dann sprang er auf ein Kissen, das auf dem Boden vor dem Kachelofen lag. Der Geschichtenerzähler stand mitten im Raum und sah aus, als würde er jeden Moment loslachen. „Kinder“, sagte er dann, „ihr seid bestimmt ganz durchgefroren und müde von eurem Spaziergang durch den Regen. Macht es euch gemütlich.“

Er verschwand hinter einer Wand aus Bücherstapeln, und kurz darauf ertönte aus etwa dieser Richtung das Klirren von Geschirr. Anders und Ka zogen ihren nassen Sachen aus, hingen sie über einen von etwa einem Dutzend Kleiderständern, die hier verstreut standen, und setzten sich auf eine gemütliche Couch. Sie war ein bisschen staubig, aber beide sanken förmlich in ihre weichen Polster ein. Kurz darauf kam der Geschichtenerzähler mit einem Tablett zurück, auf dem drei dampfende Tassen und eine Schüssel mit Keksen standen. „Ich nehme an, ihr mögt Kakao?“

Ka griff sofort zu und aß mit einem Happs zwei Kekse auf einmal, während Anders sich erst einmal die Hände an seiner Kakaotasse wärmte. „Wie heißt du eigentlich richtig?“, fragte Ka den Geschichtenerzähler mit vollem Mund. Dieser lächelte und antwortete: „Mein Name ist Fabil. Aber der Name des Geschichtenerzählers ist nicht wichtig, liebe Ka, sondern nur die Geschichte, die er zu erzählen hat.“

„Ich kenne dich“, sagte Anders plötzlich leise. Kas Schmatzen verstummte, und sie starrte ihn an.

„Ja.“ Das Lächeln verschwand aus Fabils Gesicht. „Ich habe dich damals hergebracht.“

„Warum?“

„Du warst in Gefahr, Anders. Deine Mutter musste dich in Sicherheit wissen, also habe ich dich hergebracht und dir eine andere Familie gesucht, damit sie sich um dich kümmert. Aber jetzt musst du zurück.“

„Ich weiß doch gar nicht, wie!“, protestierte Anders, aber Fabil antwortete in seiner besten Erzählerstimme: „Jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Du wirst ihn beschreiten und zu deiner Bestimmung finden. Ich zeige dir, wo der Weg anfängt. Den Rest musst du allein schaffen.“

„Und wenn ich nicht will?“, fragte Anders zögerlich.

„Dann geh‘ zurück und leg‘ dich wieder in das Bett, in dem du vorhin noch gelegen und dein Buch über Abenteuer und Helden gelesen hast. Morgen früh nach dem Aufstehen wirst du alles für einen schlechten Traum halten. Deine Zieheltern werden dich, zusammen mit ein paar Kisten und Koffern, ins Auto setzen und mit dir in eine neue Stadt ziehen. Vielleicht wird deine Mutter dich in der nächsten Stadt nicht mehr finden, um dir Nachrichten zukommen zu lassen. Dann kannst du dein Leben in Ruhe und Frieden leben. Es ist deine Entscheidung.“

Aber Anders wusste, dass er niemals in Ruhe und Frieden leben würde. Das hatte er noch nie. Er hatte schon immer eine Sehnsucht nach etwas … anderem gespürt, ohne genau zu wissen, was das gewesen war. Er gehörte einfach nicht hierher. Wenn Fabil die Wahrheit sagte, würde das einiges erklären. Warum er so anders war, warum er keine Freunde fand (außer Ka vielleicht) und warum er sich immer fühlte wie im falschen Film. Wie ein Schauspieler in einem Zorro-Kostüm, der aus Versehen an das Filmset von Raumschiff Enterprise geraten war. Vielleicht war es wirklich Zeit, nach Hause zu kehren, auch wenn er sich an dieses Zuhause gar nicht erinnerte? Als könnte sie seine Gedanken lesen, lächelte Ka ihn an. Sie hatte keine Angst, und das machte ihn ein wenig mutiger. „Okay“, sagte er, „wie kommen wir in das Land hinter den Spiegeln?“

Nun grinste Fabil wieder breit. „Durch einen Spiegel. Aber nun müsst ihr euch erst einmal ausruhen und ein wenig schlafen. Morgen geht eure Reise los, und dann reden wir über die Details.“

Anders konnte sich nicht vorstellen, jetzt zu schlafen, so aufgeregt war er. Doch als Fabil Decken holte und Ka und Anders sich auf die gemütliche Couch kuschelten, war er plötzlich sehr müde. Er murmelte noch vor sich hin.

„Was brummelst du?“, fragte Fabil lächelnd.

„Es war ein Buch über das alte Ägypten, keine Abenteuer und Heldengesch...“ Das Letzte, was Anders vor dem Einschlafen mitbekam, war das Läuten einer Uhr. Es war Mitternacht, und der erste Dezember hatte begonnen.

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8. Nicht nur anders, sondern außergewöhnlich

Anders wachte auf, weil ihm ein Hund durchs Gesicht schlabberte. Er erschreckte sich so sehr, dass er sich in der Decke verhedderte und der Länge nach von der Couch fiel, wobei er einige Papierstapel umstieß. Der Hund bellte fröhlich und verschwand schnell zwischen einer Standuhr und einem alten Sessel. „Iiih!“, machte Anders und wischte sich mit dem Pullover die Sabber aus dem Gesicht. Plötzlich tauchte der Hund von der anderen Seite der Couch auf, sprang schwanzwedelnd an Anders hoch, und schleckte seine Hände ab. „Geh weg“, brummelte Anders und versuchte, den Hund fortzuschieben.

„Guten Morgen, Sonnenschein!“ Ka stand grinsend neben ihm und hatte einen Hundekeks in der Hand, mit dem sie nun den Hund von Anders fortlockte. Mit dem Keks im Maul hüpfte der Hund in einen alten Kinderwagen aus dem vorigen Jahrhundert und machte es sich lautstark kauend dort gemütlich.

Anders brummelte erneut und rappelte sich auf. Dann strich er sich die Klamotten glatt und sah Ka aus zusammengekniffenen Augen an, einfach, um sie an seiner schlechten Laune teilhaben zu lassen. Ka aber lachte nur, drehte sich um und umrundete einen großen Haufen Krimskrams. Dahinter, stellte Anders fest, nachdem er ihr gefolgt war, hatte Fabil auf einem kleinen Tischchen ein reichhaltiges Frühstück angerichtet. Anders war sich ziemlich sicher, dass der Tisch gestern unter allerhand altem Zeugs begraben gewesen war. Nun jedoch stand ein Korb mit Croissants, Brötchen und Schwarzbrot darauf, und dazu viele verschiedene Sorten von Marmelade, Wurst und Käse. Zwei Becher mit Kakao warteten ebenfalls auf sie. Fabil, der Geschichtenerzähler, saß auf einem wackeligen, alten Stuhl und nippte an einer Tasse Tee. Er trug einen komischen Morgenmantel mit vielen Trotteln und eine seltsame Kappe auf dem Kopf. Unter dem Morgenmantel hatte er eine Art Anzug an, die Anders wie eine Requisite aus einem alten Film vorkam.

Ka schien bester Laune zu sein und ließ Anders keinerlei Zeit, sich in seiner schlechten Laune zu suhlen. Sowie er sich zu Ka auf die Couch gesetzt hatte, fing sie aufgeregt an zu plappern.

„Anders, Fabil ist derjenige, der meinen Vater immer zu den Spiegeln bringt. Seine Aufgabe ist es auch, Spiegel zu finden, durch die man gehen kann. Aber weil der Weg durch die Spiegel so hammergefährlich ist, kann mein Vater auch nicht so oft zurückkommen!“ Anders war immer noch nicht gut drauf, aber es gefiel ihm, Ka so glücklich zu sehen. Daher unterdrückte er auch den Impuls, ihr zu sagen, dass ihr Vater dann doch einfach hierbleiben könne.

Stattdessen nahm Anders sich gemächlich ein Brötchen, schnitt es auf und schmierte sich erst Butter, dann Marmelade darauf. In der ganzen Zeit sagte er nichts, und Ka zappelte richtig vor Ungeduld und warf ihm vernichtende Blicke zu. Auch Fabil sah ihm mit hochgezogenen Augenbrauen zu. Nachdem Anders herzhaft in sein Marmeladenbrötchen gebissen hatte, befand er, dass er Ka genug geärgert hatte. Mit vollem Mund fragte er endlich: „Und warum ist der Weg so gefährlich?“

Ka rollte mit den Augen und machte: „Oaaahh!“. Fabil aber sprach mit ernster Stimme. „Erstens befinden sich einige der begehbaren Spiegel an gefährlichen Orten. Zweitens befindet sich der Weg zwischen den Spiegeln fernab aller bekannten Welten. Dort existiert weder Raum noch Zeit, und man darf nicht zu lange verweilen.“

Anders hing noch bei den Worten „gefährlich“ und „Raum und Zeit“, die ihm ganz und gar nicht behagten, aber Ka rutschte ungeduldig auf den Polstern hin und her. Tatsächlich wackelte es sogar so sehr, dass Anders kaum in sein Brötchen beißen konnte.

„Dann sind alle Geschichten wahr, die mein Vater mir erzählt hat?“ Kas Augen leuchteten richtig vor Hoffnung und Abenteuerlust. „Auch die über die Blumeninseln? Und die Meerwesen? Und die Kobolde?“ Sie quietschte beinahe.

Fabil lächelte. „Ich weiß nicht, was dein Vater dir erzählt hat, Ka. Aber ja, im Land hinter den Spiegeln gibt es viele Wunder und auch Magie. In den Wäldern dort findet man Trolle und Waldgeister, die jeden, der vom Weg abkommt, in ihre unterirdischen Hallen verschleppen.“

Anders fand nicht, dass das besonders verlockend klang.

„Es gibt auch Landstriche, in denen Träume wahr werden. Dort traut sich niemand, einzuschlafen, denn es kann passieren, dass die eigenen Alpträume dich auch nach dem Aufwachen jagen. Es gibt verlassene Städte, in denen alte Wunder überdauern, und verborgene Pfade voller Geheimnisse. Im Norden sind die Gebirge so hoch, dass ihre schneebedeckten Gipfel bis in die Wolken ragen. In der Kälte dort können nur Steinriesen leben. Und natürlich der mächtige Zauberer des Nordens, der seinen Turm im tiefsten und kältesten aller Täler errichtet hat, damit er ungestört seine Magie wirken kann. Manchmal erreichen seine Eisstürme und Schneewehen sogar die tiefsten Südlande, wo der Dschungel die Städte erdrückt und der Ruhelose Ozean beginnt.“

Je mehr er über dieses Land hinter den Spiegeln erfuhr, umso weniger verspürte Anders das Bedürfnis, dorthin zu reisen. Ka allerdings war völlig hingerissen und hing an den Lippen des Geschichtenerzählers.

„Der Süden wird regiert vom Dschungelkönig, dem Zauberer des Südens. Seine Piraten und Seeleute durchstreifen auf der Suche nach Schätzen die unzähligen Inseln der Blumenfee. Dort ist immer Frühling, aber die Laune der Fee ist so unstet wie das Wetter im April. In einem Augenblick wärmt die Sonne dir den Rücken, im anderen peitschen Regen und Sturm über die See, türmen die Wellen auf und versenken die Schiffe zu Dutzenden.“

Ka gab ein seltsames Grunzen von sich. Ein Laut der Beeindruckung und Anerkennung, erkannte Anders. Seine eigene Reiselust schwand jedoch mit jedem weiteren Satz des Geschichtenerzählers ein wenig mehr.

„Manchmal schickt die Blumenfee die Seeleute aus, um mit den Meerwesen zu reden. Aber nur die mutigsten folgen diesem Ruf, denn die Kreaturen, die im Ruhelosen Ozean hausen, sind so groß, dass sie ein ganzes Schiff mit einem Biss verschlingen können.“

Anders schluckte. Es wurde immer schlimmer.

„Die Seeleute im Land hinter den Spiegeln sind jedoch ehrenwerte Händler, und ihr Ehrenwort wiegt schwerer als das der Könige. Die Schätze, die sie auf ihren gefährlichen Seereisen dem Meer entlocken, schicken sie mit den zahlreichen Karawanen auf den Weg nach Westen, wo die großen befestigten Städte des Sonnenkönigs sich aus dem sengenden Wüstensand erheben. Dort ist es so heiß, dass die Schuhsohlen beim Laufen schmelzen und am Boden festkleben. Aber die Städte wurden um die wenigen Oasen herum errichtet, sodass man in ihrer Mitte die wunderschönsten Wasserfälle und tropischen Pflanzen findet. Der Sonnenkönig, der mächtige Zauberer des Westens, regiert dort und kontrolliert mit viel Geschick und Strenge die Handelsrouten der Wüste.“

Trolle und Waldgeister, lebende Alpträume, Steinriesen, Eisstürme und Schneewehen, erdrückende Dschungel, schmelzende Schuhsohlen, Seemonster, fiese Zauberer und launische Feen. Anders überlegte kurz, ob er noch etwas vergessen hatte. Nein, das war es so ziemlich. Er würde nicht dorthin gehen, auf gar keinen Fall! Anders hatte jedoch das Gefühl, dass Fabil ihm noch nicht alles gesagt hatte. Dass all das, was der Geschichtenerzähler bislang erzählt hatte, bloß die Einleitung gewesen war und das dicke Ende noch kommen würde. Er wusste nicht genau, warum, aber anstatt seinen Entschluss zu verkünden, hörte er einfach weiter zu. Und als hätte Fabil seine Gedanken gelesen, nahm er seinen Faden wie folgt wieder auf:

„Doch was uns in dieser Runde interessieren soll, ist das Land im Osten. Hier reicht das Meer weit ins Landesinnere hinein und vermischt sich mit dem Wasser der zahlreichen kleinen Flüsse, die aus dem Grat der Welt herabfließen. Das Ergebnis ist eine weitläufige Sumpflandschaft, in der Mangroven wachsen und Nebelbänke wallen. Hier lebt der Sumpfkönig, der Zauberer des Ostens. Dein Vater, Anders.

Anders war sprachlos, und Ka machte ein Gesicht, als hätte sie gerade entdeckt, dass der Mond aus Käse wäre.

„Dein Vater ist schuld an dem Dämmerlicht, welches seit zehn Jahren im Land hinter den Spiegeln herrscht. Zusammen mit der Nebelfee hat er einen mächtigen Zauber geschmiedet, um die Herrin der Dämmerung ganz für sich allein haben zu können. Weil ihm die zwanzig Minuten, während derer sie jeden Tag die Welt beschritt, nicht ausreichten. Und seit sie irgendwo dort in den Marschen des Sumpflandes weggesperrt ist, können die Herrinnen des Tages und der Nacht nicht mehr erscheinen, denn die Herrin der Dämmerung ist nicht da, um ihnen den Weg zu bereiten.“

Fabil zögerte einen kaum spürbaren Augenblick, doch es war Anders nicht entgangen. „Seit zehn Jahren hat niemand mehr die Herrin der Dämmerung gesehen. Ein undurchdringlicher Nebel herrscht über dem Sumpf, und niemand, der seitdem dort hineingegangen ist, hat es wieder heraus geschafft. Und genau dorthin musst du gehen, Anders.“

„Cool“, hauchte Ka beeindruckt.

„Äh“, machte Anders. „Besonders erfolgversprechend klingt das jetzt aber nicht. Warum sollte ich denn so etwas Gefährliches tun?“

Fabil haute mit der Faust so sehr auf den Tisch, dass die Teller hüpften und die Tassen klirrten. Anders und Ka zuckten zusammen. „Weil es deine Aufgabe ist! Weil nur du das tun kannst, Anders! Seit zehn Jahren wartet das Land hinter den Spiegeln auf den einzigen Jungen, der die Herrin der Dämmerung befreien kann!“

„Aber warum?“, fragte Anders verzweifelt.

„Weil sie deine Mutter ist, Anders. In dir fließt das Blut sowohl eines der mächtigsten Zauberer des Landes als auch einer der drei Herrinnen der Zeit. Du besitzt Fähigkeiten, die sonst niemand hat.“

Anders wurde schwindelig, und sein Blickfeld bekam schwarze Ränder. Fabil schien es bemerkt zu haben, denn er sprang auf und eilte herüber, um ihn flach auf die Couch zu legen. Ka legte seine Füße auf ihre Oberschenkel. „Irgendwo in dir schlummern diese Fähigkeiten, Anders“, sagte Fabil.

Und dann so leise, dass Anders es gerade noch hören konnte: „Hoffentlich.“ Dann verlor er das Bewusstsein.



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9. Magische Orte

Als Anders wieder zu sich kam, wusste er zunächst gar nicht, wo er sich befand. Er hörte wütende Stimmen und beschloss erst einmal, liegen zu bleiben, bis der Schwindel sich gelegt hatte. Dann fiel es ihm wieder ein: sein Vater ein Magier, seine Mutter eine Art Göttin, und beide lebten in einem wundersamen „Land hinter den Spiegeln“. Und er selbst sollte ebenfalls Superkräfte haben. Oh Mann, gerade hatte er das Bedürfnis, wieder zu seinen Eltern zurück zu rennen und sich tausendfach dafür zu entschuldigen, weggelaufen zu sein. Sie würden sicherlich mit ihm schimpfen, und vielleicht würde er auch Hausarrest bekommen. Aber sie würden trotzdem froh sein, ihn wieder zu haben, und er müsste sich nicht mehr diese ganzen seltsamen Geschichten anhören.

Ka und Fabil schienen sich zu streiten, und soweit er es beurteilen konnte, ging der Streit schon eine ganze Weile. Ka zischte gerade: „Ach, du hast doch gar keine Ahnung!“

Fabils Antwort klang nicht weniger wütend. „Ich bin ihm zehn Jahre durch alle Städte gefolgt, immer in der Hoffnung, sein magisches Potenzial würde sich entfalten und ich müsse nur schnell eingreifen. Aber nichts! Nichts hat sich getan. In zehn Jahren! Mir haben Könige gelauscht, Könige! Und hier muss ich durch die Straßen ziehen und meine Geschichten Leuten erzählen, die zwar massig Zeit aber keinerlei Sinn für Magie haben. Ich fürchte, dieses trostlose Leben auf dieser Seite der Spiegel hat bei Anders all das, was sich hätte entfalten sollen, im Keim erstickt.“

Nun war Anders hellwach und spitzte die Ohren. Ka schien besänftigt zu sein, denn ihre Stimme klang nun viel ruhiger. „Schon möglich. Allein das ganze langweilige Zeug, das wir in der Schule lernen müssen. Da wird man ja ganz blöd im Kopf.“

Anders rappelte sich auf. „Der Sinn von Schule ist genau das Gegenteil von Blödwerden, Ka.“ Die beiden erschraken, als Anders‘ Stimme ertönte. Sie schienen sich ertappt zu fühlen und sahen sogar ein wenig betreten drein. Das hatten sie verdient, fand Anders. Über ihn zu reden, während er schlief!

Ka hatte sich aber schnell wieder gefangen und rollte mit den Augen. „Das erzählt er mir ständig“, sagte sie an Fabil gewandt.

Auch Fabil grinste nun wieder. „Ka hier ist halt eher ein Blumen- als ein Schulmädchen. Wenn du jemals auf die Blumeninseln kommst, Anders, wirst du verstehen, was ich meine. Die haben es da alle nicht so mit Ordnung und Struktur.“ Das schien furchtbar witzig zu sein, denn Fabil lachte herzlich darüber. Die beiden Kinder dagegen sahen sich stirnrunzelnd an. Ka schien nicht sicher zu sein, ob das nun ein Kompliment oder eine Beleidigung war, also guckte sie Fabil sicherheitshalber wütend an.

Anders‘ Gedanken drehten sich jedoch um eine ganze andere Frage: war er vielleicht doch nichts Besonderes? Er war zwar anders als die anderen Jungs in seiner Schule, aber es gab bestimmt überall Einzelgänger und Sonderlinge wie ihn. So richtig besonders machte ihn das also nicht. Anders ja, aber besonders? Die Vorstellung, wieder in sein altes, immer gleich ablaufendes Leben zurück zu müssen, erfüllte ihn plötzlich mit Traurigkeit. Er vermisste zwar seine Eltern, aber sein Leben eigentlich nicht. Das wurde ihm plötzlich bewusst. Von den Dingen in seinem Leben, die nur er selbst sich ausgesucht hatte und nicht seine Eltern oder die Lehrer oder sonst irgendein Erwachsener, war ihm nur eines wirklich wichtig, und das war hier bei ihm.

Ka riss ihn aus seinen Gedanken, als sie sagte: „Anders, warum glotzt du mich so an?“

Anders ballte die Hand zur Faust. Er würde sich selbst und allen anderen beweisen, was wirklich in ihm steckte. Es klang alles seltsam und unglaubwürdig, aber er würde verdammichnochmal nicht die einzige Chance verstreichen lassen, etwas Besonderes zu sein.

„Geht’s dir wieder gut, Anders?“, fragte Ka besorgt. Auch Fabil sah ihn zweifelnd an.

„Ja“, sagte Anders mit fester Stimme. „Ich weiß nicht, was für Kräfte ich habe, Fabil, aber ich werde es herausfinden. Ich habe beschlossen, dass ich dir glauben will. Und wenn meine Hilfe da wirklich gebraucht wird, dann sollten wir keine Zeit verschwenden!“

Ka sprang auf und jubelte, und auch Fabil strahlte plötzlich über das ganze Gesicht. Bevor sie aufbrachen und unter dem schimmligen Teppich hindurch in die Gasse traten, konnte sich Ka noch neue Schuhe aus einer der vielen Kisten in Fabils Wohnzimmer aussuchen. Wirklich neu waren sie nicht, aber sie passten immerhin und waren besser als ihre vom Regen durchweichten Hausschuhe. Ka wollte zuerst viel zu große Cowboystiefel mitnehmen, die sie cool fand, ließ sich von Anders aber zu bunten Turnschuhen überreden. Solche hatte er mal in einem Michael Jackson Musikvideo gesehen.

Es war nun Tag draußen, und die Straße präsentierte sich in ihrer ganzen Schmutzigkeit. Anders sah die geschwärzten Backsteine, das Graffiti an den Wänden, die rostigen Feuertreppen und den ganzen Müll auf der Straße. Seine Eltern würden einen Herzinfarkt bekommen, wenn sie wüssten, wo er sich herumtrieb. Er warf noch einen Blick zurück auf den unmöglichen Pappkarton, dann schüttelte er stumm den Kopf und eilte Fabil und Ka hinterher, die bereits schwungvoll die Gasse hinabmarschierten.

Sie liefen durch die halbe Stadt, und nach einer Weile erreichten sie einen großen Platz, auf dem ein paar verlassene Buden standen. Müll lag herum und einige Zeitungsfetzen und Plastiktüten wurden vom Wind umhergewirbelt. Der ganze Ort wirkte trostlos und nicht nur ein bisschen unheimlich. Obwohl es jetzt Nachmittag war, konnte Anders keine Menschenseele entdecken. Auch der ganze Lärm, den man normalerweise ständig in einer Stadt hörte, also das Hupen von Autos, das Klingeln von Fahrrädern, Sirenen und dergleichen, das alles fehlte hier völlig. Es war so still, dass Anders sogar beinahe seine schmerzenden Füße vergaß. Aber nur beinahe, denn er glaubte nicht, dass er überhaupt schon einmal so weit an einem Stück gelaufen war. Auch Ka hatte die letzte halbe Stunde nur noch komisch gehoppelt und das Gesicht verzogen. Doch auch sie war nun stehen geblieben und sah misstrauisch aus.

Anders ließ seinen Blick wieder über den Platz wandern. Er fühlte sich beobachtet. Fabil dagegen ging mit seinem kleinen Hund weiter voran, als wäre nichts. Aber irgendetwas stimmte hier nicht, das konnte er fühlen. Wie als Bestätigung richteten sich die Härchen auf seinem Arm auf. Die Kinder tauschten besorgte Blicke.

„Fabil, was ist das hier für ein Platz?“, fragte Ka. Fabil hatte offensichtlich nicht gemerkt, wie unwohl sich die beiden Kinder fühlten, denn als er nun stehenblieb und sich zu ihnen umdrehte, wirkte er überrascht.

„Das hier ist ein alter Jahrmarkt. An Orten wie diesen ist die Magie stark und der Übergang leicht. Besser wäre natürlich ein Ort, an dem die Magie aktiv ist. Aber versuch‘ mal, mitten in einer Zaubershow oder im Zirkus in einen Spiegel zu springen.“ Fabil kicherte. „Hab‘ ich mal gemacht. Die Leute dachten zum Glück, es wäre Teil der Show. Aber ihre Gesichter hättet ihr sehen sollen!“ Er schnaufte, und nachdem er wieder zu Atem gekommen war, war seine Stimme wieder ernst. „Am schwierigsten ist es jedoch, einen Spiegel zu finden, der groß genug ist. Magische Orte mit Spiegeln gibt es eigentlich genug, man muss aber einen Spiegel finden, durch den man durchpasst.“

Anders‘ Neugier war geweckt. „Wie findet man solche Orte?“

„Magische Orte sind solche Orte, an denen du verzaubert wirst. Also nicht wortwörtlich, sondern in dem Sinne, als dass du dort die Zeit und deine Sorgen vergisst. Wo du keine Angst hast, sondern glücklich bist. Manchmal jedoch, wenn diese Orte nur noch ein Echo des Glücks erzeugen, welches sie einst bereitet haben, dann tauchen dort Wächter auf, um Spiegelgänger zu fangen. Starkes Glück können sie nicht ertragen, aber sie lauern dort, wo die Freude bereits verblasst ist.“

Anders dachte darüber nach. Wirklich glücklich war er in letzter Zeit immer nur gewesen, wenn Ka bei ihm gewesen war. Er betrachtete sie aus den Augenwinkeln, während sie skeptisch den verlassenen Jahrmarkt beäugte. Dass sie der einzige Teil seines Lebens war, den er sich wirklich selbst ausgesucht hatte, das war ihm ja schon klargeworden. Aber nun fragte er sich, ob auch Menschen magische Orte sein konnten. Oder, anders gesagt, ob jeder Ort ein magischer Ort wäre, wenn man dort mit einem Menschen zusammen wäre, der einen glücklich machte.

Das Winseln des Hundes rief ihn wieder ins Hier und Jetzt zurück. Anders sah zu dem kleinen Hund, der nun zwischen den Beinen des Geschichtenerzählers kauerte und angsterfüllt zu einer Stelle zwischen zwei vernagelten Jahrmarktsbuden starrte. Beinahe in Zeitlupe trat ein riesiger Hund aus dem Schatten der Buden heraus. In seinem Maul glitzerten lange, spitze Zähne, und dicke Sabberfäden tropften neben ihm auf den Boden. Seine Augen blickten feindselig, und auch sein heiseres Knurren sprach eine deutliche Sprache: Verschwindet, oder ihr seid fällig! Seine Pfoten klickten bedrohlich auf dem Asphaltboden, als er langsam näherkam.

Anders schluckte. Wie war das nochmal mit dem Wächter gewesen?

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