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Start der Talon

Es war der 21. März des Jahres 2067. Die "Talon", ein Kolonieschiff, welches von den Überbleibseln der UN gebaut worden war, stand zum Start bereit. Ein drohender Hurricane hatte das Zeitfenster des Startes weit nach vorne gezogen und sehr klein gemacht. Es gab nur die eine Chance. Auf dem Schiff standen einhundert Kryokapseln bereit um die Menschen an Bord für den langen Flug zum Planeten Paradise in einen Tiefschlaf zu versetzten. Zehn dieser Kapseln waren dabei für die Crew um Captain Mortimer Envoker. Die anderen Neunzig wurden über eine allgemeine Lotterie zugelost. Zumindest offiziell.

Das Boardingprozedere ist auf Grund des kleinen Zeitfensters beschleunigt worden. Eigentlich sollten die Passagiere die Möglichkeit haben sich kennenzulernen um bei der Ankunft auf Paradise die best möglichen Vorraussetzungen zu haben. Dieses mal war es jedoch anders. Dicht an dicht drängten sich die Passagiere in einer kleinen Vorhalle. Auf einer kleinen Bühne standen die zehn Crewmitglieder und ein paar UN-Offizielle. Eine Frau trat aus diesen etwas hervor.

"Meine Damen und Herren! Willkommen zu ihrer Reise in eine neue Welt! Wir entschuldigen uns dafür, dass wir ihnen nicht die Zeit geben können, die ihnen zustünde, doch der Start muss unbedingt erfolgen! Die Herrchaften, die neben ihnen in diesem Raum stehen, werden mit ihnen zusammen eine neue Zukunft der Menschheit erschaffen. Sie alle sind Helden! Von der Reise nach Paradise..." Auf einer Bildschirmwand erschien ein Bild von dem Planeten, eindeutig von Grafikern erschaffen, denn eine Reise zurück gab es noch nie. "... werden sie nichts mitbekommen. Sie werden gleich das Raumschiff Talon betreten und zu ihren Kryokapseln gebracht. Sie sind auf zehn Kammern im Schiff verteilt und ihnen sind Plätze per Zufallsprinzip zugeteilt worden." Ein Rumoren bei einigen Leuten war zu hören. Sie waren besser gekleidet als andere und es gab einige abfällige Bemerkungen über Menschen, die nicht so betucht aussahen. "Keine Sorge! Sie bekommen wirklich nichts mit! Im Kryoschlaf kann man nicht einmal schnarchen!" Die Frau ließ eine Pause für Gelächter, welches aber nur vereinzelt und aus den Reihen der Offiziellen kam. "Captain Envoker, bitte treten sie vor. Und sagen sie ein paar letzte Worte bevor es losgeht."

Die Frau trat zurück und ein Mann in einer blauen Uniform kam nach vorne. Er hatte einen Dreitagebart und kurze schwarze Haare. Seine Statur war eher schmächtig, aber er hatte ein sicheres Auftreten. "Ja also... ich bin kein Mann vieler Worte. Das Schiff ist im besten Zustand und bereit uns fast zwei Jahrhunderte durchs All zu bringen." Ein Offizieller reusperte sich. Anscheinend sollte vermieden werden die Unendlichkeit der Reise anzuführen und einige der Passagiere tauschten nervöse Blicke aus. Jeder war sich bewusst darüber, was auf ihn zukam. Eine One-Way-Reise ins Unbekannte. Die 27 Schiffe, die vorher gestartet waren, waren noch lange nicht angekommen.

"Hmm... Meine Crew begleitet sie gleich durch diese Tore dort und zeigt ihnen den Weg. Sie werden dann aufgerufen und in die Kryokammern gebracht. Die Schiffsbesichtigung muss leider ausfallen, ist aber auch nicht so spannend." Der Offizielle unterbrach den Captain jetzt. "Nun begeben sie sich zu den Toren. Bitte haben sie einen guten Schlaf und eine schöne Reise! Wir bewundern unsere Helden der Menschheit!"

Als die Tore sich öffneten, wurde der Blick frei auf ein gigantisches Metallungeheuer an dessen Seite in großen, weißen Buchstaben "UN - Talon" geschrieben stand. Es war etwa 700m lang, 200m breit und 100m hoch. Quaderförmig, fenster- und schnörkellos stand es da. Der praktische Nutzen lag klar im Vordergrund! Mit der Erfindung von Gravitationsdämpfern der UN-Wissenschaftler, war es möglich geworden, dass Schiffe dieser Größe von einem Planeten abheben konnten. Neuartige Ionenantriebe schafften es dann mit einer sehr langsamen Beschleunigung eine immer größer werdende Geschwindigkeit zu erreichen.

Die Passagiere wurden über Rampen in das Schiff gebracht. Dabei scannten Mitarbeiter die im Unterarm implantieren ID-Chips und damit die Identität der Passagiere. Auch die Innenausstattung war pragmatisch und erinnerte an ein Marine-U-Boot. Sehr zum Ärger der gut betuchten Herrschaften natürlich. Schnell wurden die Leute zu den Kryokammern gebracht. Unter dem Personal brach Hektik aus, denn das Zeitfenster für den Start schloss sich immer weiter. Die Kryokapseln sahen aus wie ovale Betten, die von einer blauen Glaskuppel bedeckt wurden. Alle Passagiere mussten sich in privaten Umkleidekabinen umziehen. Sie bekamen alle den gleichen Body an, welcher einem Neoprenanzug ähnelte. Das Hab und Gut, das sie dabei hatten, wurde in einem Tresor mit dem ID-Chip eingeschlossen. Weiteres Gepäck durften die Passagiere in sehr limitierter Form als Fracht einlagern lassen. Hierbei gab es natürlich mehr Platz für zahlende Kundschaft aber auch für die Wissenschaftler und ihre Geräte.

Die Passagiere mussten sich zügig in die Kapseln begeben. Ihnen wurde erklärt, dass der befestigte Eimer für die Übelkeit beim Aufwachen sei und sie die Pillen, welche sich dann in einem sich automatisch öffnenden Kästchen befänden, sofort nehmen sollten. Dann schlossen sich die Glaskuppeln. Ein Gas strömte aus, welches sie sanft einschlafen ließ. So bemerkten sie nicht, wie Roboterarme ihnen dünne Masken aufsetzten und die Kapseln sich mit der Kryoflüssigkeit füllten. Als die Kapseln vollständig voll waren, aktivierte sich die Kühlung und alle Neunzig Passagiere lagen in ihrem eisigen Schlaf.

Die Talon machte sich auf den Weg in die Unendlichkeit.

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Der Captain erwacht

Envoker öffnete die Augen. Geistesgegenwärtig zog er die Maske vom Gesicht und atmete tief ein. Die Crews der Kolonieschiffe bekamen viel Kryotraining, damit sie sich nach einem Schlaf schnell zurechtfanden und nicht so sehr von der Kryokrankheit betroffen waren. Und doch war es dieses mal schlimmer als sonst im Training. Er schob es auf die lange Schlafphase über Jahrhunderte. Im Training waren es Stunden, Tage, ein paar Wochen.

Seine Hand griff zu den bereitgestellten Pillen, die er schnell mit dem Wasser aus einem Trinkpäckchen schluckte. Noch einmal atmete er durch. Irgend etwas war seltsam. Was war das für ein rotes Blinken? Der Mann drückte auf einen Knopf und die Glaskuppel hob sich. Ein Ohrenbetäubender Lärm ließ ihn zusammenzucken. Der Alarm? War das der Alarm?

Mit einem mal schoss sein Adrenalinspiegel in die Höhe und er war wach. Es war der Alarm! Er sprang auf und fiel dabei fast um. Sein Gleichgewichtssinn war vollkommen dahin und er taumelte. Leider schaffte er es nicht mehr zum Eimer. Vosichtig manövriete er um die gerade produzierte Pfütze herum, hielt sich dabei stets an irgend etwas fest. Im Vorbeigehen sah er, dass die Kapseln der Crew geschlossen waren. Schritt für Schritt ging er an der Wand entlang zur Tür, die auf die Brücke führte. Der automatische Türmechanismus öffnete sich und gab den Weg in den menschenleeren Raum frei. Überall blinkten rote Lampen und ertönten Alarmsignale.

"KIM! Stell den Alarm aus! KIM? Alarm aus! KIM!?" Das Künstliche Intelligenz Modul antwortete nicht. "Was soll die Scheiße?!" fluchte der Captain. Vorsichtig hangelte er sich weiter zu seinem Stuhl. Er ließ sich auf diesen fallen und zog den Bildschirm heran, der jedoch schwarz blieb. Mehrmals tippte er auf dem Touchbildschirm herum, bis aus dem Tippen ein Schlagen wurde. Er dachte scharf nach, versuchte alles zu erfassen:

Die Schotts vor den Brückenfenstern waren geschlossen, aber Schwerkraft war existent. Sie waren also gelandet. Der Alarm zeigte ein schiffweites, schwerwiegendes Problem an. Die KI war ausgefallen, aber die Lebenserhaltung schien zu funktionieren, genau wie die Nofallwecksequenzen. Zumindest teilweise, denn bis auf ihn war die Crew noch im Schlaf. Das sollte er als erstes angehen. Er sah sich im Raum um. Nur ein paar Meter bis zum Terminal für die Kryokontrolle. "Na komm... das schaffst du!" feuerte er sich selber an.

Langsam erhob sich der Mann und taumelte zu dem Terminal. Der Schwindel nahm allmählig ab. Er betete zu allem Möglichen, dass dieser Bildschirm funktionierte. Nach ein paar Knopfdrücken ging er an. "Na also!" jubelte er. "Dann schauen wir mal." Nach und nach wurde ihm die Lage bewusst. Viele rote Lichter leuchteten auf dem Bildschirm auf. Jedes einzelne zeigte eine defekte Kryokapsel an. Alle vorderen Kammern waren vollständig ausgefallen nur noch zwei und die Kapseln der Crew waren intakt.

Mortimer Envoker setzte sich vorsichtig auf den Hocker. So viele Menschen waren tot. Einfach eingefroren in den Tod gegangen. Sie hatten sich aufgemacht in eine neue Zukunft und dann endeten sie im Nichts.

Er sammelte sich und versuchte wieder in den Kriesenmodus zu kommen. Hastig tippte er auf dem Bildschirm herum. "Na kommt, wacht auf!" Er versuchte die Crew zu wecken, aber all seine Befehle wurden verweigert. Selbst mit seinen Überbrückungscodes ging es nicht. "Medizinischer Notfall" blinkte auf. Die Menschen würden ein Wecken nicht überleben. Mortimer wurde immer verzweifelter. "Nagut. Dann halt so..."

Die Hauptaufgabe wäre die Schiffsysteme wieder ans Laufen zu bekommen. Danach müsste rekonsturiert werden, was geschehen war. Und dann würde man sehen wie es weiterginge! Doch er brauchte Hilfe. Als erstes tippte er den Befehl ein, den Alarm auszustellen. Ohne den Signalton und das ätzende Blinken dachte es sich viel leichter. Dann versuchte er die Passagiere zu wecken. Sie würden seine neue Crew werden. Jedoch war das Energieniveau für den Weckprozess gering. In beiden Kammern würden nur zwei Kapseln geöffnet werden. Und das nacheinander. Er gab den Befehl und versuchte dann die Schiffskommunikation einzuschalten.

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[ORT] Steuerbordkammer

Die Kryokammer war ein ovaler Raum. In einem Halbkreis standen die Kapseln und summten vor sich hin. Sie strahlten ein blaues Licht ab. Jeweils hinter den Kapseln befanden sich die persönlichen Umkleiden, welche mit dem ID-Chip geöffnet werden konnten. In diesen waren wiederum die Tresore, in denen das Hab und Gut der jeweiligen Leute aufbewahrt wurde. Die Tür hinaus war verriegelt. Mit einem surren wurde die Flüssigkeit in der zweiten Kapsel von Links aufgetaut und dann abgepumpt. Zuri Lockley erwachte in dieser Kapsel mit einem sehr unangenehmen Gefühl von Übelkeit.

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Zuri blinzelte. Mit einem Mal war sie aus der wattigen, weichen Dunkelheit gerissen worden und es gefiel ihr nicht besonders, wenn sie ehrlich war. Sie blinzelte. Ihr war mulmig, übel irgendwie und ihr Kopf fühlte sich schwer an, als wäre ihr Hirn ein bisschen zu groß für den Platz, der ihm eingeräumt wurde. Sie blinzelte. Einmal. Zweimal.

Achja, sie war ja auf der Talon. In der Kyrokapsel. Was hatte man gesagt, sollten sie tun, wenn sie aufwachten? Achja. Maske abnehmen, tief durchatmen, Pillen schlucken. Zuri zog sich also die Maske von Mund und Nase und tastete neben sich nach dem kleinen Fach, das sich geöffnet hatte. Zwei kleine Kapseln lagen darin und während ihr Magen mehr und mehr in Begriff war, sich herumzudrehen, würde sie diese trotzdem schnell mit etwas Flüssigkeit aus dem beigelegten Päckchen herunter. Hoffentlich wirkte das Zeug schnell…

Einen Moment blieb sie noch unbewegt liegen, schloss erneut die Augen, atmete gezwungen tief ein und aus. Alles war gut. Das musste nur noch ihr Magen begreifen. Sie waren angekommen. Denn sonst wäre sie ja nicht aufgeweckt worden. Da draußen, außerhalb der Kyrokammer, außerhalb des Raumschiffs wartete „Paradise“. Warteten die Passagiere der anderen 27 Raumschiffe. Urgh. Sie viele fremde Menschen… Zuri hatte gehofft, wenigsten ein paar Mitglieder ihrer kleinen Koloniegruppe ein bisschen kennen zu lernen, bevor sie ankamen. Nicht, weil sie scharf auf viele soziale Kontakte gewesen wäre, aber doch, weil sie nicht auf 2800 Menschen kennenlernen wollte. Das klang wahnsinnig stressig. Vor allem, weil es vermutlich sogar noch mehr waren, mittlerweile…

Das Druckgefühl in ihrem Kopf ließ nach und sie kletterte aus der geöffneten Kyorkapsel. Es war überraschend ruhig, stellte sie fest, während sie sich zur Stabilisation noch an dem Rand der geöffneten Kapsel abstützte. Alles ganz langsam, ihren Magen bloß nicht überfordern, auch wenn der Würgreiz wuchs.

Sie brauchte einen weiteren kurzen Moment um sich zu sammeln, schloss die Augen. Atmen. Ein und aus. Es war immer noch still. Ob alle gerade so herumstanden und lagen, wie sie es gerade noch getan hatte? Zuri öffnete die Augen wieder, sah sich um. Der Raum war leer. Oder vielmehr: er war menschenleer. Die Kapseln standen schön ordentlich da, wo sie auch vor dem Start gestanden hatten. Aber sie waren alle noch geschlossen. Zuri blinzelte. Das war…falsch! Es musste einen Fehler im System geben, der die anderen Kapseln nicht geöffnet hatte.

Erschrocken wankte sie zur nächstliegenden Kapsel hinüber. Die Menschen in den Kapseln mussten ja fürchterliche Angst haben, wenn sie nicht herauskamen. Aber als Zuri die Kapsel erreichte und hineinblickte, war sie noch mit Flüssigkeit gefüllt und der Mensch darin schlummerte. Wie eine Wachsfigur lag er da. Jetzt war mit Zuris Magen nicht mehr zu verhandeln – sie lieh sich zu diesem Zweck den Eimer des Schalfenden – der brauchte ihn ja gerade nicht. Sie wankte zur nächsten Kapsel. Das gleiche Bild. Weiter zur nächsten. Und zur nächsten. Nur schlafende Menschen. Wie Insekten in Bernstein sahen sie aus… Zuri wurde immer mulmiger. Wo lag der Fehler? Bei den anderen Kapseln? Oder bei ihrer?

Schwerkraft war intakt, sie mussten gelandet sein. Aber warum waren dann alle anderen noch im Kyroschlaf? Und wie konnte sie den wieder einleiten? Angst stieg in ihr auf, als ein leises Zischen sie zusammenzucken ließ und als sie sich umwandte sah sie, dass sich eine weitere Kapsel geöffnet hatte. Okay, alles war gut. Kein Grund zur Panik. Sie war nicht alleine…die Kammern…brauchten vielleicht nur etwas länger…

Erleichtert ließ sie sich vorerst auf den Boden sinken, ihre Knie waren ohnehin weich, übel war ihr auch noch immer. Abwarten. Vielleicht wusste der andere Mensch, der gerade aufwachte, ohnehin mehr über Kyrokapseln und konnte ihr sagen, wie das ablief.

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Dunkelheit... Dunkelheit war das erste was er richtig wahrnahm. Gefolgt von einer ihn übermannenden Übelkeit. Alte Erinnerungen an eine Zeit, als die Welt noch in Ordnung war blitzten in seinem Gedächtnis auf. Er in jungen Jahren am Esstisch mit seinen alten Kameraden Alfred und Ricky, die genauso zerknautscht wie er mehr auf den Stühlen hingen als dass sie saßen und ihren, dem Vorabend geschuldeten, Kater auskurierten. Doch bevor sich die Erinnerung richtig in der Dunkelheit manifestieren konnte, war es, als ob Jeremia wie ein Fisch an der Angel mit einer irren Geschwindigkeit empor in die Realität gezogen wurde.

Und da war er nun, nicht am alten Esstisch, sondern in einer ovalen Kapsel. Sofort machten sich die jedem Menschen inne wohnenden Urinstinkte freie Bahn und der über sechzig Jahre alte Mann wedelte wild mit den Armen – er musste hier raus!

Doch außer einem leisen dumpfen Pochen, ausgelöst von seinen eigenen Schlägen tat sich erst einmal nichts. Die Kapsel blieb verschlossen Was für eine verdammte Scheiße ist das hier?! Dann fielen ihm die Pillen auf, die soeben in einer durchsichtigen Box aus der Seitenwand fuhren, da seine eigenen Hiebe die bunten Dragees kaum merklich hüpfen ließen. Was zum...Was für eine abgefahrene Show ist das …?! Und dann, als hätte er gegen einen Elektrozaun gepinkelt, schoss ihm die Erinnerung in den Kopf.

Er hatte es geschafft! Er hatte einen der letzten Plätze an Bord der Talon …. bekommen. Der Start musste vorverlegt werden und dann musste der gut gebaute Mann auch noch in diesen viel zu engen neoprenartigen Anzug schlüpfen.

Schlüpfen war gut, er fühlte sich jetzt noch wie die Wurst in der Pelle. Aber irgendwie wie eine Wurst, die man danach eingefroren hatte. Ruhe bewahren, eins nach dem anderen! Mit einer schnellen Handbewegung nahm der graubärtige Mann mit den dunkelgrauen Augen die Pillen aus der Vorrichtung, führte diese zum Mund und balancierte sie gewohnt auf der Zunge. Eine aufkeimende Welle der Übelkeit niederringend schluckte Jeremia die Pillen und sah sogleich, dass sich seine Schlafstätte öffnete... Ausgeklügelt, so nimmt jeder diese Medizin des Teufels, die bitter und sauer zugleich schmeckt, ehe diesen Sarg verlassen kann!

Sein verschwommener Blick fiel in einen ovalen Raum, in dem wohl noch mehrere dieser Kapseln gelegen waren. Es war ihm, als hätte er eine Bewegung gesehen, doch dieser Umstand rückte weit in den Hintergrund als die erneute Welle der Übelkeit sich seinen Weg suchte. Der Inhalt seines Magens suchte sich den schnellsten Weg nach draußen und nur die schnell vor den Mund gepresste Rechte verhinderte noch, dass er sich über sich selbst ergossen hätte. Seine Augen suchten panisch ein geeignetes Gefäß um sich zu erleichtern. Dann schoss die Erinnerung an die Vorbereitungen kurz vor dem Start in seine Gedanken, er wandte sich nach rechts, ertastete den Eimer, roch Erbrochenes und erleichterte sich. Die Übelkeit annehmen und nicht verdrängen … gleich wird es besser!

Speiend und schwitzend krallte er sich an den Rand des Eimers und sank kurz danach auf die Knie. „Willkommen im Paradies!“ sagte er zu sich selbst. Das kann ja was werden! Es dauerte einige Augenblicke ehe der Mann sich wieder aufrichtete und sich mit der Linken den ausgetretenen Schweiß auf der Stirn über den Haaransatz in die Haare rieb.

Dann sah er in dem Raum, in dem sich anscheinden nur eine weitere Kapsel geöffnet hatte eine Person stehen, an die er sich schwach erinnern konnte... sie war kurz vor ihm durch eines dieser Tore kurz vor dem Start gegangen.

„Und sie sind?“

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Der zweiten Kapsel entstieg ein Mann, der so ziemlich in jeder Hinsicht im Widerspruch zu Zuri stand. Er war – aus ihrer Sicht zumindest – alt. Sicherlich um die sechzig. Sie jung, mit ihren Mitte zwanzig. Er war nicht unbedingt raumsparend. Sie klein und zierlich. Sein Haar grau. Ihres hellbraun. Und doch war Zuri irgendwie froh, ihn zu sehen und das, obwohl sie selten richtig froh war, Leute zu sehen. Zugegeben wäre ihr jetzt für den emotionalen Beistand sicherlich ein gackerndes Huhn lieber gewesen, aber für die intellektuelle Komponente war ihr ein Mensch dann doch ganz recht.

Sie erhob sich wieder, ihre Beine immer noch weich und wackelig, aber ihr Magen schien sich langsam zu fangen. Ob das die Tabletten waren, die wirkten? Oder hatte sie die sowieso schon längst wieder ausgespuckt? Was hatte sie da überhaupt geschluckt? Half das gegen die Übelkeit? Oder waren das konzentrierte Nährstoffe gewesen, die ihr Körper nach dem langen Schlaf brauchte? Reiner Zucker vielleicht, um den Kreislauf zu kick-starten? Alles auf einmal? Oder etwas ganz anderes? Rückblickend hätte sie vielleicht nicht so brav den Regeln folgen sollen, die vorher niemand richtig erklärt hatte, aber sie würden schon ihre Gründe haben. Es war ja wichtig, dass sie alle möglichst schnell einsatzfähig waren, so eine Kolonie baute sich ja nicht von selbst auf, also würden kluge Köpfe schon einen Grund haben, warum sie ihnen solche Tabletten zur Verfügung stellten. Dennoch, Zuri sah eine Verbesserungsoption im System. Jedem schien derartig schlecht zu werden, dass übergeben nicht zu verhindern war, deshalb bekam jeder einen Eimer. Nicht so eine kleine Spucktüte aus Papier, falls einem ein bisschen unwohl war, sondern einen richtigen Eimer! Weil man offensichtlich davon ausging, dass jeder seinen gesamten Mageninhalt loswerden musste. Wäre es also nicht viel schlauer gewesen, das erst einmal passieren zu lassen, _bevor_ man die Tabletten schluckte? Gut, nun war es sicherlich zu spät, das für die kommenden Schiffe noch ändern zu können, die waren ja schon unterwegs…aber vielleicht konnte man ja trotzdem noch auf die anderen Computersysteme zugreifen und eine Nachricht einspeisen, die anderen Aufwachenden diesen Tipp gab? Das war ein Vorschlag, den sie definitiv machen musste, sobald sie jemanden zu Gesicht bekam, der sich dahingehend auskannte. IT-Experten hatte man ja bekannter Maßen schon einige hochgeschickt, die würden das schon in den Griff bekommen.

 

Ob der Fremde Mann nun ein IT-Experte war, war ihm schwer anzusehen. Er war zumindest einigermaßen höflich. Zwar hatte er irgendetwas vor sich hin gemurmelt, bevor er mit dem Spuck-Eimer nähere Bekanntschaft geschlossen hatte, aber immerhin wandte er sich dann Zuri zu. Eine Begrüßung wäre ganz nett gewesen, fand sie, aber sie konnte auch damit umgehen, einfach direkt zu den wirklich wichtigen Dingen über zu gehen.

„Zuri Lockley.“, stellte sie sich also vor. „Und Ihr Name?“ Gut, wenn sich einem gerade noch der Magen herumdrehte, die Beine wackelig waren und einem der Kopf dröhnte war es wohl nicht unüblich, eher kurz angebunden miteinander umzugehen. Aber der Name des anderen war ja auch eigentlich gar nicht so wichtig wie die Frage danach, inwieweit er sich möglicher Weise auskannte.

„Die anderen Kapseln gehen nicht auf. Sie wissen nicht zufällig, ob das normal ist? Oder ob man sie manuell öffnen kann?“ Es wäre schon ein großer Zufall, das wusste Zuri. Dass ausgerechnet der andere Mensch, der gerade wach war, Techniker war. Oder Kyrokammerexperte. Oder sowas. Aber es konnte ja sein. Auf diesem Raumschiff waren schließlich ein Haufen Menschen, die für ihre Fähigkeiten mitgeschickt worden waren, vielleicht gehörte er dazu. Und vielleicht war seine Fähigkeit ja eine, die jetzt gerade weiterhalf. Sonst…ja…sonst würden sie sich vielleicht mal auf den Weg zur Brücke machen müssen? Da würde schon irgendwer sein, der wusste, wie sich das mit den Kammern verhielt…

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Ihm gegenüber stand eine kleine und eher schmale junge Frau, das konnte er nun, da sein Verstand langsam hoch fuhr, deutlich am anderen Ende des Raumes sehen. Aber wieso schaute sie ihn auf diese Art an? Ja sicherlich, der enge Anzug war seiner Figur nicht gerade zuträglich aber mit seinen 1,90m würde er sich bei seinem Gewicht als leicht übergewichtig einordnen, ihr Blick schrie ihm allerdings -du bist FETT- entgegen. Das fängt ja gut an...

Der Blick brachte Jeremia dazu seinen Blick abzuwenden -lass gut sein Jeremia, du wolltest einen Neuanfang- und sich ein wenig genauer in dem Raum um zu sehen. Außer einer weiteren offenen Kapsel, der wohl Miss Oberflächlich entsprungen war, waren alle weiteren geschlossen. Seltsam, er hätte eher gedacht, dass es hier in der Aufwachphase voll und gedrängelt zuginge. Oder wurde der Schlaf gesteuert und in bestimmten Intervallen bei den Schläfern gestoppt. Man weiß es nicht.

und dann plötzlich sprach die junge Frau. Zuri Lockley war also ihr Name. Das sagte ihm nichts, den Nachnamen hörte er auch zum ersten mal. Aber sie scheint sich die selben Gedanken machen wie ich... ganz auf den Kopf gefallen ist sie also nicht! Aber wieso fragte sie ihn das, so wie es aussah schien Zuri Länger wach zu sein als er.

Mein Name, wie ist mein Name? Er fühlte sich wie ein minder Bemittelter, als ihm dieser nicht direkt einfallen wollte. aber schließlich brach auch diese elementare Erinnerung einen Weg durch die mentale Mauer, die der Kryoschlaf erbaut hatte.

"Jeremia... Jeremia Rickson. Und nein, zu den anderen Kapsel..." da war wieder so ein Anflug von Übelkeit. er streckte ihr die flache Hand entgegen und hoffte sie würde diese Geste, sich einfach einmal kurz wegzudrehen, verstehen, während er sich wahrscheinlich neue Bröckchen in den eigenen Vollbart spie. Zu seiner Freude blieb es bei einem Aufstoßen. "...also nochmal: Zu den anderen Kapseln kann ich nichts sagen, ich war damit beschäftigt mir das Paradies einmal vor Augen zu führen" Er grinste sie einmal kurz an, wartete aber nicht, ob sie seinen Humor teilte, sondern trat, sich den Bauch haltend, zu der Kapsel zu seiner Linken.

Weit geöffnete Augen, die außerordentlich weit aus der Höhle getreten waren und deren Iris von geplatzen Adern eingerahmt waren, starrten Jeremia anklagend durch eine waberne Flüssigkeit an. Der Körper wirkte aufgedunsen - ähnlich wie bei faulenden aufgeblähten Körpern. Das kann nicht normal sein! "Verdammte Scheiße!" Es sah so aus, als hätte die Frau, die seiner Schätzung nach wohl mitte dreißig war, alles bei Bewusstsein mitbekommen, was hier geschehen war. Neben der Kryokammer war ein kleines Bedienfeld, nach dem mehrfachen wahllosen Tippen auf das Touchpad, war allerdings klar, dass diese Technik wohl zentral entriegelt werden musste - auf sein Tippen hin passierte nichts. "Sind die hier tot?!"

Er drehte sich wieder zu der jungen Frau um "Wie lange bist du schon wach?" Auf diese Antwort war er gespannt. Aber davon ab kam es ihm alles etwas seltsam vor, dass sonst niemand hier war, abgesehen davon dass in diesem Raum definitiv etwas nicht stimmte. Wo war die Crew? Oder das Empfangskomitee im Paradies? Wo war die freudige Zukunft ohne die ständige Gewalt, die Toten und Infizierten?

Sein Hirn war jetzt hochgefahren und nahm die Eindrücke, die sich aus diesen ersten Momenten ergaben nun gefiltert auf und stellte die Fakten klar nebeneinander: Die Schwerkraft funktionierte - sie waren also gelandet. Etwas stimmte hier nicht, viele Kapseln blieben geschlossen und die Schläfer scheinen tot zu sein - bei vollem Bewusstsein ertrunken? Wo war die Crew - sind auch sie tot? War er sich wirklich sicher, dass diese Frau dort hinten mit ihm das Schiff betreten hatte.

Er besann sich erst einmal auf seine oberste Überlebensregel: Vertraue niemandem, hinterfrage alles und Sicherheit existiert nicht!

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